Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen führte eine Strafuntersuchung gegen A. wegen versuchter Tötung und weiterer Gewaltdelikte. Am 14. Februar 2019 ernannte die Staatsanwaltschaft Rechtsanwältin B. zur amtlichen Verteidigerin. Mit Eingabe vom 21. März 2022 informierte Rechtsanwalt C. die Staatsanwaltschaft, dass der Beschuldigte ihn privat mandatiert habe. Da das Vertrauensverhältnis seines Mandanten zur amtlichen Verteidigerin erheblich gestört sei, beantrage er, Rechtsanwalt C., die Übertragung der amtlichen Verteidigung auf ihn. Mit Verfügung vom 8. April 2022 wies die Staatsanwaltschaft das Gesuch um Wechsel der amtlichen Verteidigung ab. Eine vom Beschuldigten dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen am 8. Juli 2022 ab.
Am 9. September 2022 erhob die Staatsanwaltschaft beim Kantonsgericht Schaffhausen, Strafkammer, Anklage gegen den Beschuldigten wegen versuchter Tötung, versuchter schwerer Körperverletzung, Raub, mehrfacher Drohung, Nötigung und mehrfacher versuchter Nötigung. Sie beantragte die Ausfällung einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren (unter Anrechnung der strafprozessualen Haft) und die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme.
Entscheid Vorinstanz
Gegen den Entscheid vom 8. Juli 2022 des Obergerichtes gelangte der Beschuldigte mit Beschwerde vom 13. September 2022 an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Einsetzung seines privat mandatierten Rechtsvertreters als neuer amtlicher Verteidiger.
Die Staatsanwaltschaft liess sich am 27. September 2022 vernehmen. Weder die Vorinstanz noch die amtliche Verteidigerin haben innert der auf den 17. Oktober 2022 angesetzten Frist eine Stellungnahme eingereicht. Nach erfolgter Rückfrage durch das Bundesgericht vom 21. Oktober 2022 übermittelte das Obergericht am 24. Oktober 2022 die Verfahrensakten. Mit unaufgeforderter Eingabe vom 1. März 2023 bat die Staatsanwaltschaft um möglichst beförderliche Behandlung der Beschwerdesache.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1B_479/2022 vom 21. März 2023
Zum Wechsel der amtlichen Verteidigung
Der Beschwerdeführer macht vor Bundesgericht unter anderem Folgendes geltend. Soweit ein Vertrauensverhältnis zur Offizialverteidigerin jemals bestanden habe, sei dieses aufgrund ihres Verhaltens dahingefallen. Jede erbeten verteidigte beschuldigte Person, „die während eines seit mehr als drei Jahre dauernden Strafverfahrens nicht ein einziges Mal in der Haft von ihrer Verteidigung besucht oder kontaktiert“ worden sei, „diametral entgegengesetzte Vorstellungen über die Verfahrensführung und Verteidigungsstrategie (Sanktionsfolgen und der damit zusammenhängenden Vollzugssituation) “ habe und zudem „in einzelnen Einvernahmen ohne vorherige Absprache ohne Beistand“ geblieben sei, würde sofort einen Wechsel der Verteidigung vornehmen. Gerade „der Eindruck, dass sich die Verteidigung für die Belange der beschuldigten Person einsetzt“, sei für die Bildung eines Vertrauensverhältnisses von überragender Bedeutung. Daran ändere auch der Hinweis der Vorinstanz nichts, dass die Verteidigung nicht blosses Sprachrohr der beschuldigten Person sei. Die Abwesenheit der amtlichen Verteidigung an Einvernahmen der beschuldigten Person in einem Verfahren mit notwendiger Verteidigung verstosse gegen die anwaltliche Sorgfaltspflicht. Während des Verfahrens um Wechsel der amtlichen Verteidigung habe er ausserdem vergeblich versucht, mit seiner Offizialverteidigerin Kontakt aufzunehmen. Diese habe weder auf seine Briefe noch auf Anrufe geantwortet. Er rügt in diesem Zusammenhang insbesondere eine Verletzung von Art. 134 Abs. 2 StPO, bemerkt das Bundesgericht.
Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 1B_479/2022 vom 21. März 2023 zunächst wie folgt zur notwendigen Verteidigung:
«Die beschuldigte Person muss nach Art. 130 StPO (notwendig) verteidigt werden, wenn die Untersuchungshaft einschliesslich einer vorläufigen Festnahme mehr als 10 Tage gedauert hat (lit. a) oder ihr eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, eine freiheitsentziehende Massnahme oder eine Landesverweisung droht (lit. b). Liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, so achtet die Verfahrensleitung darauf, dass unverzüglich eine Verteidigung bestellt wird (Art. 131 Abs. 1 StPO). Sind die Voraussetzungen notwendiger Verteidigung bei Einleitung des Vorverfahrens erfüllt, so ist die Verteidigung nach der ersten Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft, jedenfalls aber vor Eröffnung der Untersuchung, sicherzustellen (Art. 131 Abs. 2 StPO). In den Fällen der notwendigen Verteidigung ordnet die Verfahrensleitung eine amtliche Verteidigung an, wenn die beschuldigte Person trotz Aufforderung der Verfahrensleitung keine Wahlverteidigung bestimmt (Art. 132 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 StPO). Die amtliche Verteidigung wird von der im jeweiligen Verfahrensstadium zuständigen Verfahrensleitung bestellt (Art. 133 Abs. 1 StPO). Die Verfahrensleitung berücksichtigt bei der Bestellung der amtlichen Verteidigung nach Möglichkeit die Wünsche der beschuldigten Person (Art. 133 Abs. 2 StPO). Ist das Vertrauensverhältnis zwischen der beschuldigten Person und ihrer amtlichen Verteidigung erheblich gestört oder eine wirksame Verteidigung aus anderen Gründen nicht mehr gewährleistet, so überträgt die Verfahrensleitung die amtliche Verteidigung einer anderen Person (Art. 134 Abs. 2 StPO).» (E.2.1).
«Die Vorschrift von Art. 134 Abs. 2 StPO trägt dem Umstand Rechnung, dass eine engagierte und effiziente Verteidigung nicht nur bei objektiver Pflichtverletzung der Verteidigung, sondern bereits bei erheblich gestörtem Vertrauensverhältnis beeinträchtigt sein kann. Dahinter steht die Idee, dass eine amtliche Verteidigung in jenen Fällen auszuwechseln ist, in denen auch eine privat verteidigte beschuldigte Person einen Wechsel der Verteidigung vornehmen würde. Wird die subjektive Sichtweise der beschuldigten Person in den Vordergrund gestellt, bedeutet dies aber nicht, dass allein deren Empfinden für einen Wechsel der Rechtsvertretung ausreicht. Vielmehr muss die Störung des Vertrauensverhältnisses mit konkreten Hinweisen belegt und objektiviert werden (BGE 138 IV 161 E. 2.4). In den Grenzen einer sorgfältigen und effizienten Ausübung des Offizialmandates ist die Wahl der Verteidigungsstrategie grundsätzlich Aufgabe der amtlichen Verteidigung. Zwar hat sie die objektiven Interessen der beschuldigten Person möglichst im gegenseitigen Einvernehmen und in Absprache mit dieser zu wahren. Die Offizialverteidigung agiert jedoch im Strafprozess nicht als blosses unkritisches „Sprachrohr“ ihrer Mandantschaft. Insbesondere liegt es im pflichtgemässen Ermessen der amtlichen Verteidigung zu entscheiden, welche Prozessvorkehren und juristischen Standpunkte sie (im Zweifelsfall) als sachgerecht und geboten erachtet (vgl. BGE 126 I 26 E. 4b/aa; 194 E. 3d; 116 Ia 102 E. 4b/bb; Urteile 1B_398/2013 vom 22. Januar 2014 E. 2.1; 1B_110/2013 vom 22. Juli 2013 E. 4.3).» (E.2.2).
Das Bundesgericht spricht sich im Urteil 1B_479/2022 vom 21. März 2023 für einen Wechsel der amtlichen Verteidigung aus, mit eingehender Begründung:
«Weder die Vorinstanz noch die Staatsanwaltschaft, noch die Offizialverteidigerin bestreiten die Vorbringen des Beschwerdeführers, dass Letztere ihn während seiner Gefängnisaufenthalte nie besuchte oder anrief, dass sämtliche Kontakte zwischen ihr und ihm ausschliesslich bei behördlichen Einvernahmeterminen stattfanden und dass sie an mehreren Einvernahmen des Beschuldigten nicht teilnahm. Das Obergericht stellt sich auf den Standpunkt, diese Umstände vermöchten keine objektiven Anhaltspunkte für eine erhebliche Störung des Vertrauensverhältnisses glaubhaft zu machen.
Die Erwägungen der Vorinstanz überzeugen nicht. Es handelt sich hier um einen schwer wiegenden Straffall mit notwendiger Verteidigung (Art. 130 lit. a-c StPO). Wie der Anklageschrift zu entnehmen ist, beantragt die Staatsanwaltschaft wegen versuchter Tötung, versuchter schwerer Körperverletzung, Raub, mehrfacher Drohung, Nötigung und mehrfacher versuchter Nötigung eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren und die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme. Zudem hatte der Beschwerdeführer bis zum 9. September 2022 insgesamt 1’273 Tage strafprozessuale Haft erstanden (59 Tage Untersuchungshaft und 1’214 Tage vorzeitiger Strafvollzug). Dass die Offizialverteidigerin den Beschuldigten unbestrittenermassen jahrelang nie für ein Instruktionsgespräch im Gefängnis besuchte bzw. kontaktierte, insbesondere zur Besprechung von wichtigen Verfahrensschritten oder zur Absprache der Verteidigungsstrategie, und dass alle Kontakte zwischen ihr und dem Beschuldigten sich auf förmliche Einvernahmetermine beschränkten, erscheint ungewöhnlich und auffällig. Ins Gewicht fällt dabei auch der ebenfalls unbestrittene Umstand, dass die amtliche Verteidigerin an mehreren förmlichen Einvernahmen nicht teilnahm. Zwar ist der Vorinstanz darin zustimmen, dass es grundsätzlich in den Aufgabenbereich der Verteidigung fällt, im Rahmen ihres pflichtgemässen Ermessens zu entscheiden, welche Beweisanträge und juristischen Argumentationen sie als sachgerecht und erforderlich erachtet. Um das notwendige Vertrauen mit ihrer Klientschaft aufzubauen und zu erhalten, erscheint es jedoch geboten, dass die Verteidigung eine ausreichende Absprache von wichtigen Prozessschritten mit dem Beschuldigten gewährleistet und ihm das von ihr gewählte prozessuale Vorgehen wenigstens in den Grundzügen und in angemessenen Zeitabständen erläutert. Das Obergericht stellt im Übrigen fest, dass die Offizialverteidigerin im vorinstanzlichen Verfahren mitteilte, sie stelle sich dem Wunsch des Beschwerdeführers nach einem Verteidigerwechsel nicht entgegen. Zur Frage einer allfälligen Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses hat sie sich weder im vorinstanzlichen Verfahren noch im Verfahren vor Bundesgericht geäussert.
Entgegen der Ansicht der kantonalen Instanzen waren die dargelegten Umstände, bei gesamthafter Betrachtung, objektiv geeignet, das Vertrauen des Beschwerdeführers in eine effiziente und ausreichend engagierte Verteidigung bis zum März 2022 allmählich auszuhöhlen. Daran ändern auch die Vorbringen der kantonalen Instanzen nichts, die Offizialverteidigerin habe keine „gewissenhafte Erklärung“ abgegeben, wonach sie eine wirksame Verteidigung des Beschwerdeführers nicht mehr gewährleisten könne, oder eine „allfällige“ mangelnde Kooperation einer beschuldigten Person mit der Verteidigung stelle keinen ausreichenden Grund für einen Verteidigerwechsel dar. Unbehelflich ist auch der Einwand, der Beschwerdeführer habe im Februar 2019 keinen Gebrauch von seinem Recht gemacht, eine andere Rechtsvertretung vorzuschlagen oder zu wählen. Zwar behauptet er nicht in substanziierter Weise, es habe schon 2019 aus objektivierbaren Gründen an einem ausreichenden Vertrauensverhältnis gefehlt. Er legt jedoch dar, dass sich die Entfremdung in den folgenden Jahren, aufgrund des ihm als zu passiv und wenig kommunikativ erscheinenden Verhaltens der amtlichen Verteidigerin, sukzessive entwickelt habe. Es ist sachlich nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer das notwendige Vertrauen in die amtliche Verteidigung etwa seit März 2022 (Gesuch um Verteidigerwechsel) allmählich verloren hat. Die Ansicht der Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe nicht ausreichend dargetan, dass das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und der Offizialverteidigerin erheblich gestört ist, verletzt Art. 134 Abs. 2 StPO. Das Gesuch um Wechsel der amtlichen Verteidigung ist daher gutzuheissen.» (E.2.7)
Wechsel der amtlichen Verteidigung ex tunc oder ex nunc?
Das Bundesgericht hatte dann im Urteil 1B_479/2022 vom 21. März 2023 noch die Frage zu entscheiden, ob der Wechsel der amtlichen Verteidigung ex nun oder tunc zu erfolgen hat? Es fällte nach eigehender Abwägung den folgenden einzelfallbezogenen Entscheid für ex nunc:
«Es stellt sich weiter die Frage, welche prozessualen Folgen sich aus dem Verteidigerwechsel ergeben und ob dieser ex nunc oder rückwirkend (auf den 21. März 2022) anzuordnen ist.
Zwar ist es sachlich nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer seit März 2022 das notwendige Vertrauen in seine Rechtsvertretung eingebüsst hat, weshalb ein Verteidigerwechsel zu verfügen ist. Dies führt jedoch im vorliegenden Fall nicht zur Schlussfolgerung, dass der Beschwerdeführer im unterdessen abgeschlossenen Untersuchungsverfahren (mit Anklageerhebung am 9. September 2022) nicht wirksam verteidigt gewesen wäre. Was er vorbringt, lässt jedenfalls keine schweren Fehler und Versäumnisse der Offizialverteidigerin erkennen, die eine Wiederholung von Teilen der Untersuchung von Bundesrechts wegen als geboten erscheinen liessen. Das nach erfolgter Anklageerhebung mit dem Fall befasste Strafgericht wird dem Verteidigerwechsel im Hauptverfahren aus Gründen der Verfahrensfairness wie folgt Rechnung zu tragen haben:
Soweit der neue amtliche Verteidiger entsprechende substanziierte Verfahrensanträge stellt, wird das Strafgericht zu prüfen haben, ob gewisse Einvernahmen, an denen die bisherige Offizialverteidigerin nicht teilgenommen hat, im Beisein des neuen amtlichen Verteidigers zu ergänzen sein werden. Dem amtlichen Verteidiger wird gegebenenfalls die Gelegenheit einzuräumen sein, Ergänzungsfragen zu stellen. Beweisverwertungsverbote oder ungültige Untersuchungshandlungen sind in diesem Zusammenhang weder dargetan noch ersichtlich. Ausserdem wird das Strafgericht den Beschuldigten ausführlich zu befragen und dem Offizialverteidiger die Möglichkeit zu geben haben, Ergänzungsfragen zu stellen.
Demzufolge ist der Wechsel der amtlichen Verteidigung mit Wirkung per sofort (ex nunc) anzuordnen und nicht rückwirkend auf den 21. März 2022 (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG).» (E.2.8)
Bemerkungen zum Urteil 1B_479/2022 vom 21. März 2023
Dieses Urteil zum Thema amtliche Verteidigung ist sehr lesenswert. Einerseits setzt sich das Bundesgericht sowohl generell-abstrakt als auch fallbezogen mit den Voraussetzungen für einen Wechsel auseinander.
Andererseits prüft das Bundesgericht einzelfallbezogen ob ein Wechsel ex tunc oder ex nunc angeordnet werden kann. Grundsätzlich ist beides möglich.