Grosser Ermessensspielraum der Verfahrensleitung bei Aktentriage für Gutachten

Im Urteil 1B_203/2023 vom 8. Juni 2023 aus dem Kanton-Basel Stadt, wo es um den Tod eines Kindes bei der Geburt und das ärztliche Verschulden geht, äusserte sich das Bundesgericht zur Frage, welche Dokumente dem Sachverständigen zu übergeben sind. Dabei obliegt der Verfahrensleitung ein «grosser Ermessensspielraum»: «Es obliegt somit der Verfahrensleitung, der sachverständigen Person die für die Erstellung des Gutachtens erforderlichen Unterlagen und Informationen zu übermitteln und die Verfahrensakten hierzu entsprechend zu triagieren. Sie verfügt dabei über einen grossen Ermessensspielraum.» (E.3.3)

Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt ein Strafverfahren gegen Dr. med. A. und andere Personen wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung und anderen Delikten. Dem Strafverfahren liegt eine Strafanzeige der Eltern von D., B. und C., zugrunde. Konkret wird Dr. med. A. vorgeworfen, als Oberarzt während der Geburt von D. trotz Kenntnis der Risikoschwangerschaft und des pathologischen Zustands des ungeborenen Kindes nicht die Verlängerung des CTG (Herzton-Wehen-Messung), sondern lediglich eine Kontrollmessung in zwei Stunden und gestützt darauf nur einen dringenden anstelle eines notfallmässigen Kaiserschnitts angeordnet zu haben, wodurch er den Tod D.s verursacht habe.

Instanzenzug

Mit Aktengutachten vom 4. Mai 2016 bzw. Corrigendum vom 10. Juni 2016 gelangten zwei Sachverständige des Instituts für Rechtsmedizin Basel Stadt (hiernach: IRM) zum Schluss, den für die Geburt von D. zuständigen Medizinalpersonen lasse sich kein fehlerhaftes Verhalten vorwerfen. Die Privatklägerschaft machte geltend, dieses Gutachten sei fachlich unzulänglich und die Gutachterstelle nicht objektiv. Daraufhin vergab die Staatsanwaltschaft einer neuen Sachverständigen einen Auftrag zur rechtsmedizinischen Begutachtung. Das Appellationsgericht Basel-Stadt hob diesen jedoch in der Folge wieder auf und stellte fest, dass die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit diesem Gutachtensauftrag eine Rechtsverweigerung begangen habe.

Mit Verfügung vom 6. Juli 2021 stellte die Staatsanwaltschaft den Parteien schliesslich einen neuen Entwurf des Auftrags zur rechtsmedizinischen Begutachtung zu. Die Privatklägerschaft beantragte hierauf, das Gutachten des IRM vom 4. Mai 2016 bzw. das Corrigendum vom 10. Juni 2016 nicht an den neuen Sachverständigen herauszugeben. Die Staatsanwaltschaft hiess diesen Antrag mit Verfügung vom 21. September 2021 gut, wobei sie festhielt, dass dem neuen Sachverständigen unter anderem das sog. „Roundtable-Protokoll“ vom 12. Februar 2014 übermittelt werden soll.

Mittels drei Beschwerden an das Appelationsgericht (BES.2021.117; BES.2022.84; BES.2022.159) wehrte sich Dr. med. A. unter anderem dagegen, dass dem neuen Sachverständigen das „Roundtable-Protokoll“ vom 12. Februar 2014 zur Verfügung gestellt wird. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt wies die Beschwerden mit Entscheid vom 10. Februar 2023 ab, soweit es auf diese eintrat und sie nicht gegenstandslos geworden waren.

Weiterzug ans Bundesgericht

Mit Beschwerde in Strafsachen vom 18. April 2023 beantragt Dr. med. A. vor Bundesgericht, der Entscheid des Appellationsgerichts sei aufzuheben und die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, dem von ihr zu beauftragenden Sachverständigen das „Roundtable-Protokoll“ vom 12. Februar 2014 nicht zu übermitteln.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1B_203/2023 vom 8. Juni 2023

Die Vorinstanz hat, wie das Bundesgericht ausführt, entschieden, dem neuen Sachverständigen sei das „Roundtable-Protokoll“ auszuhändigen. Sie erwägt, nicht einmal der Beschwerdeführer selbst gehe von der Unverwertbarkeit dieses Protokolls aus. Es handle sich demnach nicht um ein Aktenstück, dem jeglicher Beweiswert abzusprechen wäre. Ihrer Auffassung nach wäre aber nur in diesem Fall auf eine Herausgabe an den Sachverständigen zu verzichten, um eine unzulässige Beeinflussung zu vermeiden. Wenn dagegen – wie im vorliegenden Fall – erst das Sachgericht über die definitive Verwertbarkeit eines bestimmten Aktenstücks zu befinden habe, sei dieses dem Sachverständigen zu übergeben. Das Sachgericht werde in der Folge zu entscheiden haben, ob auf das Gutachten abgestellt werden könne oder ob dieses zu korrigieren bzw. zu ergänzen sei.

Der Beschwerdeführer rügt vor Bundesgericht eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1, Art. 184 und 185 StPO. Er macht geltend, entgegen der Auffassung der Vorinstanz seien dem neuen Sachverständigen nur diejenigen Akten zu übermitteln, die „einen rechtsgenüglichen Nachweis der Grundlagen erlauben, auf welche sich die gutachterlichen Feststellungen abzustützen haben“. Da die Staatsanwaltschaft den massgebenden Sachverhalt nicht abgeklärt habe, würde die Herausgabe des „Roundtable-Protokolls “ dazu führen, dass dieses zur massgebenden Grundlage des neuen Gutachtens würde. Das „Roundtable-Protokoll “ sei jedoch von einem Mitbeschuldigten verfasst worden und habe keinerlei Beweiswert, da – wie der Beschwerdeführer bereits vor der Vorinstanz geltend machte – die darin kolportierten Aussagen nicht „justizförmig verwertbar“ gemacht worden seien. Stütze sich das Gutachten nun (einzig) auf dieses von einem Mitbeschuldigten verfassten „Roundtable-Protokoll „, würden dadurch Prozess- und Parteirechte ausgehebelt, was das Fair-trial-Prinzip nach Art. 6 EMRK verbiete. Werde der Gutachtensauftrag in offenkundig rechtswidriger Weise gegeben und führe dies (wegen Unverwertbarkeit des Gutachtens) zu einem strafprozessualen Leerlauf, werde dadurch auch das Beschleunigungsgebot nach Art. 5 Abs. 1 StPO verletzt.

Das Bundesgericht äussert sich alsdann im Urteil 1B_203/2023 vom 8. Juni 2023 wie folgt:

«Nach Art. 184 StPO ernennt die Verfahrensleitung die sachverständige Person (Abs. 1) und übergibt ihr zusammen mit dem Auftrag die zur Erstellung des Gutachtens notwendigen Akten und Gegenstände (Abs. 4). Der sachverständigen Person sind nicht die gesamten Verfahrensakten zu übergeben, sondern nur diejenigen, die für die Beantwortung der Gutachterfragen erforderlich sind (ANDREAS DONATSCH, in: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, 3. Aufl. 2020, N. 44 zu Art. 184 StPO; JOËLLE VUILLE, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 27 zu Art. 184 StPO; JEANNERET/KUHN, Précis de procédure pénale, 2. Aufl. 2018, N. 13008; SCHMID/JOSITSCH, Praxiskommentar StPO, 3. Aufl. 2018, N. 16 zu Art. 184 StPO; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, Petit commentaire, Code de procédure pénale, 2. Aufl. 2016, N. 33 zu Art. 184 StPO; MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 30 zu Art. 184 StPO). Hält die sachverständige Person Ergänzungen der Akten für notwendig, so stellt sie der Verfahrensleitung einen entsprechenden Antrag (Art. 185 Abs. 3 StPO). Es obliegt somit der Verfahrensleitung, der sachverständigen Person die für die Erstellung des Gutachtens erforderlichen Unterlagen und Informationen zu übermitteln und die Verfahrensakten hierzu entsprechend zu triagieren. Sie verfügt dabei über einen grossen Ermessensspielraum (Urteil 1B_546/2020 vom 10. Dezember 2020 E. 3.1 und 3.2 mit Hinweisen).» (E.3.3)

«Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, indem sie der Argumentation des Beschwerdeführers nicht folgt: Die Staatsanwaltschaft kann zwar wie gesehen auch aus anderen Gründen als der Unverwertbarkeit eines Beweisstücks von dessen Übermittlung an die sachverständige Person absehen. Vorliegend legt der Beschwerdeführer aber nicht dar und es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass die Staatsanwaltschaft ihr Ermessen über- bzw. unterschritten oder missbraucht hätte, indem sie entschied, dem neuen Sachverständigen das „Roundtable-Protokoll“ zur Verfügung zu stellen. Inwieweit der neue Sachverständige bei seiner Begutachtung auf dieses Aktenstück abstellen wird, hängt im Übrigen auch von seiner Instruktion durch die Staatsanwaltschaft ab, worauf aber der Beschwerdeführer nicht weiter eingeht und dadurch seine Begründungsobliegenheit verfehlt (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG). Wie die Vorinstanz zutreffend festhält, wird die Würdigung des Gutachtens – einschliesslich der Auswahl der übermittelten Akten und der Instruktion des Sachverständigen durch die Staatsanwaltschaft – Aufgabe des Sachgerichts sein. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Rechtsverletzungen liegen nicht vor.» (E.3.4).

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