Sachverhalt
Am frühen Morgen des 27. Dezember 2015 versuchte B. als Beamter der Stadtpolizei Zürich zusammen mit weiteren Polizisten A., der mit einem Messer in der Hand der Birmensdorferstrasse in Zürich entlang ging, anzuhalten und zu kontrollieren. Auf entsprechende polizeiliche Aufforderung hin hielt A. weder an noch legte er das Messer zu Boden. Stattdessen ging er damit schnellen Schrittes auf B. zu, wobei er „kill me, kill me!“ rief. Daraufhin gab der Polizeibeamte C. zum Schutz seines Kollegen zwei Schüsse auf A. ab. Auch B. schoss zunächst zweimal auf A., bevor er rückwärts weichend mit dem Polizeifahrzeug „Limmat 3“, welches mit der Front Richtung Stationsstrasse geparkt war, zusammenstiess. Es kam zu einem Gerangel zwischen ihm und A., welches sich vom Polizeifahrzeug weg in die Stationsstrasse verlagerte, wobei B. irgendwann zu Boden stürzte. Während der sehr rasch ablaufenden Geschehnisse gab er insgesamt elf Schüsse auf A. ab. Dieser zeigte auf die Schussabgaben keine Reaktion und setzte sich auch nach der anschliessenden Verhaftung und dem Eintreffen der Ambulanz zur Wehr. Er erlitt beim Vorfall sechs Rumpfläsionen (zwei Durchschüsse, einen tangentialen Weichteilausschuss und einen Steckschuss), einen Durchschuss am rechten Unterarm und sechs Läsionen am linken Arm (zwei Durchschüsse, einen tangentialen Weichteileinschuss und einen Streifschuss) sowie einen Knochenbruch der nasenwärts gelegenen Wand der linken Augenhöhle. Die teilweise lebensgefährlichen Verletzungen mussten notfallmässig operiert werden. Im Zeitpunkt des Vorfalls war A. aufgrund einer akut exazerbierten Schizophrenie schuldunfähig.
Verfahrensgeschichte
Die im Anschluss an den Vorfall eröffneten Strafuntersuchungen gegen die beiden Polizeibeamten C. und B. wurden am 8. März 2018 eingestellt. Mit seinen Rechtsmitteln gegen die Verfahrenseinstellung betreffend B. drang A. schliesslich beim Bundesgericht durch (vgl. Urteil 6B_1183/2018 vom 25. März 2019).
Am 2. März 2020 erhob die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich Anklage gegen B. wegen versuchter vorsätzlicher Tötung. Sie wirft ihm vor, er habe, als sich A. nach dem Gerangel von ihm abgewendet und entfernt habe, bewusst und gewollt drei weitere Schüsse in dessen Richtung abgegeben. Dabei habe er ihn an beiden Armen und im Rückenbereich getroffen. Dies habe B. getan, obschon er nicht mehr angegriffen worden und von A. keine Gefahr mehr ausgegangen sei.
Mit Urteil vom 24. Juni 2020 sprach das Bezirksgericht Zürich B. vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung frei.
Im von A. angehobenen Berufungsverfahren bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 24. August 2021 den erstinstanzlichen Freispruch.
Weiterzug an das Bundesgericht
Der A. erhebt Beschwerde in Strafsachen und beantragt vor Bundesgericht, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und B. sei der versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig zu sprechen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1301/2021 vom 9. März 2023
Streitig ist vor Bundesgericht, ob Polizist B. (Beschwerdegegner 2) bei sämtlichen Schussabgaben in Notwehr gehandelt hat. (E.2).
Einleitende Darstellungen des Bundesgerichts
Fest steht, wie das Bundesgericht erläutert, dass laut schusswaffentechnischem Ergänzungsgutachten vom 3. Juli 2017 bei drei der vom Beschwerdegegner 2 abgegebenen Schüsse die Möglichkeit eines Verlaufs von hinten nach vorne durch den Körper des Beschwerdeführers besteht. Ebenso ist in tatsächlicher Hinsicht erstellt, dass der Beschwerdegegner 2, nachdem er rückwärts weichend mit dem Polizeifahrzeug „Limmat 3“ zusammengestossen war, zu Boden fiel. Es kam zu einem Gerangel zwischen ihm und dem Beschwerdeführer, wobei dieser zeitweise auf dem Beschwerdegegner 2 drauf lag und der Letztgenannte weitere Schüsse abgab. Umstritten ist, wie das Bundesgericht weiter ausführt, der Zeitpunkt des Sturzes resp. dessen Distanz zum Polizeifahrzeug. Die Vorinstanz geht gemäss Bundesgericht davon aus, dass der Beschwerdegegner 2 einige Meter vom Fahrzeug entfernt zu Boden ging und sämtliche Schüsse vor oder während des Gerangels und somit in einer Notwehrsituation abgab. Dagegen ist der Beschwerdeführer der Auffassung, der Beschwerdegegner 2 sei nach dem Gerangel wieder aufgestanden, habe noch einige Schritte getätigt und dann das Geschoss gemäss Fotoposition Nr. 51 auf ihn abgefeuert, als er bereits am Davonrennen gewesen sei. Er rügt die diesbezügliche Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz als offensichtlich unrichtig, aktenwidrig und willkürlich. (E.2.1.1).
Unbestrittenermassen wurde, wie das Bundesgericht ergänzt, das Geschoss gemäss Fotoposition Nr. 51 vom Beschwerdegegner 2 abgefeuert. Es muss zunächst den Körper des Beschwerdeführers getroffen haben, bevor es vorne rechts in den Kotflügel des Polizeifahrzeugs „Limmat 3“ einschlug. Der fragliche Schuss muss im Stehen abgegeben worden sein (E.2.2.2).
Wäre der Beschwerdegegner 2, wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht, unmittelbar vor dem Polizeifahrzeug zu Fall gekommen und während des anschliessenden Gerangels nicht mehr aufgestanden, liesse sich der Einschuss in die Front von „Limmat 3“ tatsächlich nur damit erklären, dass der Beschwerdegegner 2 im Anschluss, als sich der Beschwerdeführer bereits von ihm abgewendet hatte, nochmals auf diesen schoss. Anders verhält es sich, wenn sich die beiden Protagonisten, wie von der Vorinstanz angenommen, bemerkt das Bundesgericht, während des Handgemenges zunächst ein Stück vom Polizeifahrzeug weg in die Stationsstrasse hinein bewegten, bevor der Beschwerdegegner 2 stürzte. Denn erstelltermassen gab er während des Gerangels weitere Schüsse ab. Gehörte das Geschoss gemäss Fotoposition Nr. 51 zu den während laufendem Gerangel (noch vor dem Sturz) abgegebenen Schüssen, lag eine Notwehrsituation vor. (E.2.1.3).
Zusammenfassend hält die Vorinstanz, wie das Bundesgericht erklärt, fest, dass sich eine Schussabgabe durch den Beschwerdegegner 2 auf den davonrennenden Beschwerdeführer nicht rechtsgenüglich erstellen lasse. Die Schüsse seien einzig zur Abwehr des akut psychotisch erkrankten, mit einem gefährlichen Messer aggressiv auf den Beschwerdegegner 2 losgehenden und aufgrund beeinträchtigter Impulskontrolle mit aufgehobener Steuerungsfähigkeit agierenden Beschwerdeführers, mithin zur Abwehr einer Notlage erfolgt. Im Ergebnis sei der Beschwerdegegner 2 in Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ und gestützt auf Art. 15 StGB (rechtfertigende Notwehr) vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung freizusprechen. (E.2.2.4).
Ausführungen zu «in dubio pro reo»
Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 6B_1301/2021 vom 9. März 2023 wie folgt zum grundsatz von «in dubio pro reo» als Beweiswürdigungsregel und als Beweislastregel:
«Nach Art. 10 Abs. 3 StPO geht das Gericht von der für die beschuldigte Person günstigeren Sachlage aus, wenn unüberwindliche Zweifel daran bestehen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen der angeklagten Tat erfüllt sind. Diese Bestimmung operationalisiert den verfassungsmässigen Grundsatz der Unschuldsvermutung („in dubio pro reo“; Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK). Sie verbietet es, bei der rechtlichen Würdigung eines Straftatbestands von einem belastenden Sachverhalt auszugehen, wenn nach objektiver Würdigung der gesamten Beweise ernsthafte Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt tatsächlich so verwirklicht hat, oder wenn eine für die beschuldigte Person günstigere Tatversion vernünftigerweise nicht ausgeschlossen werden kann (BGE 144 IV 345 E. 2.2.1; 145 IV 154 E. 1.1; Urteil 6B_596/2021 vom 30. Januar 2023 E. 3.3.2). Wenn das Sachgericht den Beschuldigten verurteilt, obwohl bei objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses unüberwindliche, schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an dessen Schuld vorliegen, so liegt immer auch Willkür vor. Insoweit geht die Kognition des Bundesgerichts nicht weiter als die übliche Willkürkontrolle hinsichtlich vorinstanzlicher Sachverhaltsfeststellungen (BGE 144 IV 345 E. 2.2.3.3; Urteil 6B_1362/2020 vom 20. Juni 2022 E. 13.2.2; je mit Hinweisen). In seiner Funktion als Beweiswürdigungsregel kommt dem Grundsatz „in dubio pro reo“ im Verfahren vor Bundesgericht mit anderen Worten keine über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgehende Bedeutung zu (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; 145 IV 154 E. 1.1; 143 IV 500 E. 1.1; je mit Hinweisen).
Als Beweislastregel bedeutet der Grundsatz „in dubio pro reo“, dass es Sache der Anklagebehörde ist, die Schuld des Beschuldigten zu beweisen. Der Grundsatz ist verletzt, wenn das Gericht einen Beschuldigten (einzig) mit der Begründung verurteilt, er habe seine Unschuld nicht nachgewiesen. Dies prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (BGE 144 IV 345 E. 2.2.3.3; Urteile 6B_1362/2020 vom 20. Juni 2022 E. 13.2.2; je mit Hinweisen).» (E.2.3.2).
Das Bundesgericht setzt sich anschliessend mit verschiedenen Rügen des Beschwerdeführers und den Ausführungen der Vorinstanz auseinander (E.2.3.3 ff.).
Das Bundesgericht kommt im Urteil 6B_1301/2021 vom 9. März 2023 zum gleichen Schluss wie die Vorinstanz und sieht unüberwindliche Zweifel an der Tatversion in der Anklage:
«Mit den weiteren von der Vorinstanz genannten Indizien (Fundorte von Messer und Rucksack und Aussagen von D.) sowie ihren Erwägungen zu den Schüssen mit Eintritt auf der Körperrückseite („Szenario 1, 2 und 9“, angefochtenes Urteil), welche allesamt ein stimmiges Bild ergeben, setzt sich der Beschwerdeführer nicht auseinander. Er präsentiert dem Bundesgericht letztlich einzig einen weiteren, aus seiner Sicht möglichen Geschehensablauf, ohne Willkür in der vorinstanzlichen Sachverhaltsfestellung darzutun. Die von der Vorinstanz aufgezeichnete Alternative zum Sachverhalt gemäss Anklage bleibt unbesehen seiner Einwände plausibel. Damit bestehen ernsthafte, unüberwindliche Zweifel an der zur Anklage gebrachten und vom Beschwerdeführer vertretenen Tatversion, wonach der Beschwerdegegner 2 nach Beendigung der Notwehrsituation noch einen Schuss auf ihn abgefeuert habe. Diese Zweifel schliessen einen Schuldspruch aus.» (E.2.4.8).
Bemerkungen zum Urteil 6B_1301/2021 vom 9. März 2023
Rechtlich bzw. methodisch ist das Urteil 6B_1301/2021 vom 9. März 2023 sehr interessant, weil es im Detail auf die Unterscheidung des Grundsatzes von «in dubio pro reo» als einerseits Beweiswürdigungsregel, mit beschränkter Kognition des Bundesgerichts, und andererseits als Beweislastregel, mit freier Kognition des Bundesgerichts, eingeht (E.2.3.2). Bei Beschwerden an das Bundesgericht ist dies von zentraler Bedeutung.
Im Resultat führt das Urteil zum Freispruch des Polizisten, wo «in dubio pro reo» entschuldigende Notwehr nach Art. 15 StGB angenommen wurde.