Fehlender Tatverdacht im Entsiegelungsverfahren

Im Urteil 7B_128/2023 vom 14. Dezember 2023 aus dem Kanton Graubünden geht es um den fehlenden Tatverdacht im Entsiegelungsverfahren. Das Bundesgericht äussert sich hierzu wie folgt: «Zwangsmassnahmen können nur ergriffen werden, wenn ein hinreichender Tatverdacht vorliegt (Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO). Im Gegensatz zum erkennenden Sachrichter hat das für die Beurteilung von Zwangsmassnahmen im Vorverfahren zuständige Gericht bei der Überprüfung des hinreichenden Tatverdachtes keine erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen. Bestreitet die betroffene Person den Tatverdacht, ist vielmehr zu prüfen, ob aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat und eine Beteiligung der beschuldigten Person an dieser Tat vorliegen, die Strafbehörden somit das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts mit vertretbaren Gründen bejahen durften. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können […].» (E.2.1). Das Bundesgericht verneint den Tatverdacht im vorliegenden Urteil und heisst die Beschwerde gut (E.2.3 und E.3). Das Bundesgericht verweist dabei auch auf das Urteil Verwertbarkeit von Beweisen aus «Fishing Expedition» ist deliktsabhängig – Strafrechtonline.

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft Graubünden wirft B. mit Anklageschrift vom 13. September 2022 gewerbsmässigen Betrug, schwere Geldwäscherei und weitere Delikte vor. Im Laufe der Strafuntersuchung gegen B. erstatte der (seither verstorbene) Geschädigte C. am 10. September 2019 Strafanzeige gegen unbekannt und zeigte an, dass Mitarbeiter der A. Bank sich allenfalls ebenfalls strafbar verhalten haben könnten. Am 23. August 2021 erfolgte eine weitere Strafanzeige durch einen anderen Geschädigten, D. Daraufhin eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen unbekannt wegen Gehilfenschaft zu gewerbsmässigem Betrug und Geldwäscherei. Es bestehe der Verdacht, dass Mitarbeiter der A. Bank B. in irgendeiner Form unterstützt hätten.

Verfahrensgang/Instanzenzug

Im Strafverfahren gegen unbekannt verlangte die Staatsanwaltschaft mit Editionsverfügung vom 6. Oktober 2022 von der A. Bank vollständige elektronisch und physisch geführte Kundendossiers respektive Kundenarchive betreffend die E. AG, Unterlagen der Abteilung SEZR, Unterlagen der Abteilung EVV-Desk und Unterlagen zur Kreditsicherung. Mit Schreiben der A. Bank vom 30. November 2022 stellte diese die verlangten Unterlagen mittels USB-Stick der Staatsanwaltschaft zu und verlangte gleichzeitig deren Siegelung.

In der Folge beantragte die Staatsanwaltschaft dem Zwangsmassnahmengericht des Kantons Graubünden, die bei der A. Bank versiegelten Unterlagen seien zu entsiegeln und herauszugeben. Das Zwangsmassnahmengericht gab diesem Antrag mit Verfügung vom 23. Februar 2023 statt.

Weiterzug ans Bundesgericht

Die A. Bank gelangt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt, der vorinstanzliche Entscheid sei vollständig aufzuheben und das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft sei vollumfänglich abzuweisen. Eventualiter sei der Entscheid zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das präsidierende Mitglied der – damals zuständigen – I. öffentlich-rechtlichen Abteilung hat der Beschwerde am 28. April 2023 antragsgemäss die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Das Zwangsmassnahmengericht hat auf eine Stellungnahme verzichtet. Die Staatsanwaltschaft hat sich vernehmen lassen, wobei sie die Abweisung der Beschwerde beantragt, soweit überhaupt darauf einzutreten sei. Die A. Bank hat eine Replik eingereicht.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_128/2023 vom 14. Dezember 2023

Prozessuales

Da die Beschwerdeführerin nicht Partei des hängigen Strafverfahrens gegen unbekannt ist, wirkt sich der angefochtene Entsiegelungsentscheid für sie als Endentscheid im Sinne von Art. 90 f. BGG aus (Urteil 1B_543/2021 vom 1. Juli 2022 E. 1.1), bemerkt das Bundesgericht einleitend (E.1.1).

Die Beschwerdeführerin legt gemäss Bundesgericht genügend dar, dass die sichergestellten und gesiegelten Bankunterlagen eigene Geschäftsgeheimnisse beinhalten würden, die vor einer Kenntnisnahme durch Dritte zu schützen seien. Das aktuelle Rechtsschutzinteresse ist folglich zu bejahen (E.1.2).

Bestreitung des hinreichenden Tatverdachts durch Beschwerdeführerin

Die Beschwerdeführerin beanstandet vor Bundesgericht die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts (E.2).

Das Bundesgericht äussert sich generell-abstrakt im Urteil 7B_128/2023 vom 14. Dezember 2023 wie folgt zum hinreichenden Tatverdacht bei Zwangsmassnahmen:

«Zwangsmassnahmen können nur ergriffen werden, wenn ein hinreichender Tatverdacht vorliegt (Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO). Im Gegensatz zum erkennenden Sachrichter hat das für die Beurteilung von Zwangsmassnahmen im Vorverfahren zuständige Gericht bei der Überprüfung des hinreichenden Tatverdachtes keine erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen. Bestreitet die betroffene Person den Tatverdacht, ist vielmehr zu prüfen, ob aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat und eine Beteiligung der beschuldigten Person an dieser Tat vorliegen, die Strafbehörden somit das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts mit vertretbaren Gründen bejahen durften. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können (BGE 141 IV 87 E. 1.3.1; 137 IV 122 E. 3.2; Urteil 6B_821/2021 vom 6. September 2023 E. 1.3.1, zur Publikation vorgesehen).» (E.2.1).

Anschliessend legt das Bundesgericht im Urteil 7B_128/2023 vom 14. Dezember 2023 die fallbezogenen Ausführungen der Vorinstanz dar:

«Die Vorinstanz erwog, Hintergrund der vorliegenden Abklärungen bzw. Ermittlungen sei, dass die Staatsanwaltschaft gegen B. eine Strafuntersuchung führe, die mittlerweile in eine Anklage gemündet habe, und ihm gewerbsmässigen Betrug, schwere Geldwäscherei etc. vorwerfe. C. sel. als Geschädigter und Privatkläger habe bereits frühzeitig, und zwar im Laufe der Abklärungen gegen B., eine Strafanzeige gegen unbekannt erstattet und angezeigt, dass Mitarbeiter der Beschwerdeführerin sich allenfalls ebenfalls strafbar verhalten haben könnten und dies abzuklären sei. Diese Strafanzeige datiere bereits vom 10. September 2019. Sodann sei am 23. August 2021 eine erneute Strafanzeige, dieses Mal durch einen anderen Geschädigten (D.) erfolgt. Die Staatsanwaltschaft habe in der Folge ein Strafverfahren gegen unbekannt wegen Gehilfenschaft bzw. Beihilfe zu gewerbsmässigem Betrug und Geldwäscherei eröffnet. Es bestehe der Verdacht, dass sich Mitarbeiter der Beschwerdeführerin strafbar verhalten und B. in irgendeiner Form geholfen hätten. Die Staatsanwaltschaft führe in ihrem Entsiegelungsgesuch aus, dass Mitarbeiter der Beschwerdeführerin durch Kontoüberträge wissentlich und willentlich auch Handlungen vorgenommen hätten, die geeignet gewesen seien, die Einziehung der von B. deliktisch erlangten Vermögenswerte zu vereiteln. Die bereits getätigten Ermittlungen und Befragungen seien ohne Ergebnis geblieben, der Tatverdacht aber evident; deshalb sei die Editionsverfügung an die Bank erlassen worden, um eben die Beteiligung der Mitarbeiter der Beschwerdeführerin an den Handlungen von B. zu prüfen.  Dass gegen B. Vorwürfe betreffend schwere Verbrechen (gewerbsmässiger Betrug, Geldwäscherei) im Raum stehen würden und diese nun in einer Anklage am Regionalgericht gemündet hätten, sei erstellt. Es erstaune zwar, dass im Rahmen der Abklärungen und der nun doch schon Jahre dauernden Ermittlungen nicht schon früher gegen die Mitarbeitenden der Beschwerdeführerin ermittelt worden sei. Dies ändere aber nichts daran, dass eine derartige Beteiligung in Form einer Begünstigung im Sinne von Gehilfenschaft oder ähnlichem zu prüfen sei und schon deshalb ein hinreichender Tatverdacht, ein konkreter Tatverdacht als erstellt zu gelten habe. Der Tatverdacht sei eben dann hinreichend, mit anderen Worten genügend, wenn Anzeichen vorliegen würden, dass eine strafbare Handlung vorliegen könnte. Genau dies könne mit den sichergestellten, versiegelten Dokumenten genauer geprüft werden, und es erscheine „als möglich“, dass Mitarbeiter der Beschwerdeführerin das allenfalls strafbare Verhalten in irgendeiner Form begünstigt hätten. Es obliege dem Zwangsmassnahmengericht einzig, die Zwangsmassnahme bzw. deren gültige Voraussetzungen zu prüfen. Es dürfe aber nicht sein, dass ein solcher Entscheid bereits in eine faktische Verfahrenseinstellung des Ermittlungsverfahrens führe, was vorliegend wohl der Fall wäre. Mithin seien an den hinreichenden Tatverdacht keine überhöhten Anforderungen zu stellen, auch wenn die Strafanzeigen bereits seit Jahren vorliegen würden. Es sei denn auch nicht geltend gemacht worden, dass bislang nichts unternommen worden sei. Vielmehr habe die Staatsanwaltschaft ausgeführt, dass die bisherigen Ermittlungen die Untersuchung nicht entscheidend vorwärtsgebracht hätten. Es werde Aufgabe der Staatsanwaltschaft sein, aufgrund der dannzumal gewonnenen Ergebnisse Anklage zu erheben oder das Ermittlungsverfahren einzustellen. Das Gegenargument der langen Verfahrensdauer sei nicht stichhaltig. Einzig Zeitablauf anzurufen, um damit aufzuzeigen, dass bislang niemand – auch nicht die Staatsanwaltschaft – mit einer strafbaren Handlung von Dritten (seitens Mitarbeitenden der Beschwerdeführerin) gerechnet bzw. diese ins Auge gefasst habe, sei nicht überzeugend. Immerhin habe ein Geschädigter bereits im Jahre 2019 diese Frage der Tatbeteiligung durch die Mitarbeitenden der Beschwerdeführerin angezeigt und aufgeworfen. Es könnten mithin ganz andere Umstände dazu geführt haben, dass sich die Ermittlungen in die Länge gezogen hätten, vor allem weil das konnexe Hauptverfahren gegen den mutmasslichen Haupttäter nicht einfach zu führen gewesen sein könnte. Insbesondere habe B._ soweit ersichtlich oft seine Aussage – zulässiger Weise – verweigert und damit kein Licht ins Dunkle gebracht.» (E.2.2).

Das Bundesgericht erklärt im Urteil 7B_128/2023 vom 14. Dezember 2023 darauf die Rüge des fehlenden Tatverdachts der Beschwerdeführerin wie folgt als begründet:

«Das Strafverfahren gegen B. wurde bereits 2015 eröffnet. Ob der Verdacht, dass Mitarbeiter der Beschwerdeführerin B. bei seinen mutmasslichen Machenschaften unterstützt haben könnten, erst mit den beiden Strafanzeigen vom 10. September 2019 und 23. August 2021 aufgekommen ist, kann hier dahingestellt bleiben. Wie die Staatsanwaltschaft im vorinstanzlichen Verfahren jedenfalls selber einräumte, blieben die in diesem Zusammenhang getätigten polizeilichen Ermittlungen und Befragungen ohne Ergebnis. Inwiefern unter diesen Umständen konkrete Anhaltspunkte vorliegen sollten, dass Mitarbeiter der Beschwerdeführerin durch Kontoüberträge wissentlich und willentlich (Hilfs-) Handlungen vorgenommen hätten, die geeignet gewesen seien, die Einziehung der von B. deliktisch erlangten Vermögenswerte zu vereiteln, geht aus dem angefochtenen Entscheid nicht hervor. Die Vorinstanz legt insbesondere nicht näher dar, welche Teilnahmehandlungen zur Geldwäscherei, geschweige denn zum (gewerbsmässigen) Betrug diesen (unbekannten) Mitarbeitern vorgeworfen würden. Die blosse Möglichkeit, dass Mitarbeiter der Beschwerdeführerin das allenfalls strafbare Verhalten von B. „in irgendeiner Form begünstigt“ hätten, genügt für die Begründung eines hinreichenden Tatverdachts auf eine allfällige Förderung der Haupttat nicht. Eine reine Vermutung vermag den staatsanwaltschaftlichen Herausgabebefehl nicht zu legitimieren, weshalb er sich als unzulässig erweist.» (E.2.3)

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut (E.3).

Vom Bundesgericht erwähntes Leiturteil zum Tatverdacht

Hier geht es zum vom Bundesgericht in diesem Urteil erwähnten Leiturteil 6B_821/2021 vom 6. September 2023 (E. 1.3.1),

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