Erstes Urteil der neuen II. strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts

Das Urteil 7B_146/2023 vom 11. Juli 2023 aus dem Kanton Basel-Stadt ist das erste von der neuen II. strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts veröffentlichte Urteil und in diesem Sinne historisch. Das Urteil behandelt die handschriftlich eingereichte Laienbeschwerde eines Mannes der in Sicherheitshaft sitzt. Trotz der Abweisung der Beschwerde und des fehlenden Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege zeigte sich die II. strafrechtliche Abteilung menschlich und verzichtete auf die Erhebung von Gerichtskosten (E.4).

Sachverhalt

Mit Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt vom 28. Januar 2022 wurde A. zweitinstanzlich wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, versuchter schwerer Körperverletzung und diversen weiteren Delikten zu einer Freiheitsstrafe von 33 /4 Jahren verurteilt, wobei der Vollzug der ausgesprochenen Freiheitsstrafe zugunsten einer stationären Therapie in einer psychiatrischen Klinik gemäss Art. 57 Abs. 2 und 59 Abs. 1 StGB aufgeschoben wurde. Die dagegen erhobene Beschwerde ist beim Bundesgericht unter der Verfahrensnummer 6B_675/2022 hängig.

Instanzenzug

Der A. befindet sich seit dem 9. September 2019 in Untersuchungshaft respektive im vorzeitigen Straf- und Massnahmevollzug. Mit Gesuch vom 5. Juni 2023 beantragte er unter Verweisung auf die vollständige Verbüssung der ausgesprochenen Freiheitsstrafe die Haftentlassung. Dieses Gesuch wies die Präsidentin des Appellationsgerichts mit Verfügung vom 16. Juni 2023 ab.

Laienbeschwerde an das Bundesgericht

Mit handschriftlicher Eingabe vom 20. Juni 2023 gelangte A. an das Appellationsgericht Basel-Stadt, welches das Schreiben an das Bundesgericht zur allfälligen Entgegennahme als Beschwerde in Strafsachen weiterleitete. Sinngemäss beantragt er, den Entscheid der Präsidentin des Appellationsgerichts aufzuheben und ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen.

Das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt und die Vorinstanz haben auf eine Vernehmlassung verzichtet, die Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen. Die amtliche Verteidigerin des Beschwerdeführers wurde über den Eingang der Beschwerde in Kenntnis gesetzt.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_146/2023 vom 11. Juli 2023

Das Bundesgericht äussert sich wie folgt:

«Nach Art. 221 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1 lit. a; sog. Fluchtgefahr) oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Abs. 1 lit. c; sog. Wiederholungsgefahr). An Stelle der Haft sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO). Die Vorinstanz hat gestützt auf die erst- und zweitinstanzliche Verurteilung des Beschwerdeführers sowohl das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts als auch der besonderen Haftgründe der Flucht- und Wiederholungsgefahr bejaht. Sodann beurteilt sie die Haft als verhältnismässig, da der Beschwerdeführer ernsthaft mit einer längerfristigen stationären Massnahme nach Art. 59 Abs. 4 StGB rechnen müsse.» (E.2)

Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen von Haftgründen vor Bundesgericht zu Recht nicht. Er rügt jedoch sinngemäss die fehlende Verhältnismässigkeit der Haft respektive das Vorliegen von Überhaft nach Art. 212 Abs. 3 StPO. Gemäss dieser Bestimmung dürfen Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe. (E.3)

Die Vorinstanz hat diesbezüglich festgehalten, die Verhältnismässigkeit der Haft sei nicht nach der ausgesprochenen Freiheitsstrafe, sondern anhand der voraussichtlichen Länge der drohenden stationären Massnahme zu beurteilen. Aus forensisch-psychiatrischer Sicht sei die psychische Störung, an welcher der Beschwerdeführer leide, von erheblicher Schwere, und mit raschen Erfolgen könne angesichts des gutachterlichen Befundes nicht gerechnet werden. Der Vollzug der Massnahme könne somit deutlich länger dauern als die bisher erstandene Haft, womit sich deren Weiterführung als verhältnismässig erweise.  (E.3.1)

Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz sinngemäss eine willkürliche Feststellung des entscheidrelevanten Sachverhalts vor. Sie habe einzig den Austrittsbericht der Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG) berücksichtigt, welcher fälschlicherweise eine Diagnose auf Schizophrenie stelle. Demgegenüber sei sowohl im Therapiebericht des Zentralgefängnisses Lenzburg vom 23. Juni 2021 als auch in früheren Gutachten der PDAG festgehalten worden, dass keine Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis gestellt werden könne. (E.3.2)

Das Bundesgericht führt dazu aus:

«Liegt bereits ein Urteil in der Sache vor, so hat die beschuldigte Person, welche die Strafbarkeit bestreitet, das Strafmass als überhöht kritisiert oder wie vorliegend die Anordnung einer Massnahme als verfehlt erachtet, darzulegen, inwiefern das Strafurteil klarerweise fehlerhaft erscheint bzw. inwiefern eine entsprechende Korrektur im Berufungsverfahren mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Soweit bereits eine Urteilsbegründung vorliegt, haben sich die Parteien des Haftprüfungsverfahrens auch mit den betreffenden Erwägungen des Sachrichters auseinanderzusetzen (siehe Urteil 1B_540/2022 vom 17. November 2022 E. 5.4.1 mit zahlreichen Hinweisen).  Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt hat sich in seinem Berufungsurteil vom 28. Januar 2022, auf welches im angefochtenen Entscheid verwiesen wird, eingehend mit den unterschiedlichen Gutachten und Diagnosen betreffend den Beschwerdeführer auseinandergesetzt. Dabei ist es zum Schluss gelangt, dass kein Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose einer undifferenzierten Schizophrenie episodisch remittierend bestehe. Selbst wenn jedoch nicht von einer Schizophrenie ausgegangen werden könnte, wäre eine Persönlichkeitsstörung bei (unbestrittenem) schwerwiegendem Substanzmittelmissbrauch anzunehmen und läge damit ohnehin eine schwere psychische Störung im Sinne von Art. 59 Abs. 1 StGB vor. Mit diesen ausführlichen Erwägungen des Sachgerichts setzt sich der Beschwerdeführer in keiner Weise auseinander, und es ist nicht ersichtlich, dass der Berufungsentscheid „klarerweise fehlerhaft“ wäre. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers hat die Vorinstanz demnach keineswegs lediglich den Austrittsbericht der PDAG berücksichtigt, sondern durfte gestützt auf das zweitinstanzliche Sachurteil davon ausgehen, dass ernsthaft mit einer längerfristigen Massnahme zu rechnen ist. Eine weitergehende Prüfung des Berufungsurteils obliegt nicht dem Haftgericht, sondern wird im Rahmen des bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahrens 6B_675/2022 vorzunehmen sein.» (E.3.3)

Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, zeigte sich aber betreffend der Kosten als grosszügig: «Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Verfahrensausgang ist der Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren hat er nicht gestellt. Angesichts der Gesamtumstände rechtfertigt es sich indessen, auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG).» (E.4)

Kommentare (0)