Sachverhalt
Nachdem A. Einsprache gegen einen Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg vom 29. Juli 2019 erhoben hatte, sprach ihn das Bezirksgericht Laufenburg mit Urteil vom 22. Juni 2020 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Parkzeit gemäss Art. 27 Abs. 1 SVG und Art. 48 Abs. 8 der Signalisationsverordnung vom 5. September 1979 (SSV; SR 741.21) i.V.m. Art. 100 Ziff. 1 und Art. 90 Abs. 1 SVG schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 40.–, ersatzweise einem Tag Freiheitsstrafe.
Instanzenzug
Auf Berufung von A. hin bestätigte das Obergericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 9. Oktober 2020 den Entscheid des Bezirksgerichts in sämtlichen Punkten. Es hielt für erwiesen, dass A. am 22. Februar 2019 sein Fahrzeug Renault mit französischem Kennzeichen länger als die für Kurzparker maximal erlaubten fünf Stunden auf einem weissen Parkfeld am Weiherweg in Laufenburg geparkt hatte. Am 12. Mai 2021 hiess das Bundesgericht eine Beschwerde in Strafsachen von A. betreffend die mangelhafte Eröffnung des Berufungsurteils vom 9. Oktober 2020 gut. Das Obergericht wurde angewiesen, A. das Berufungsurteil gültig zu eröffnen (Urteil 6B_271/2021). Dies geschah am 3. Februar 2022.
Weiterzug ans Bundesgericht
Der A. zieht das Urteil des Obergerichts vom 9. Oktober 2020 erneut vor Bundesgericht und beantragt mit Beschwerde in Strafsachen dessen Aufhebung. Er sei vom Vorwurf des fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Parkzeit freizusprechen. Der durch die Beschwerdeführung entstandene Schaden sei ihm zu ersetzen. Für das bundesgerichtliche Verfahren sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichten auf eine Vernehmlassung.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_205/2022 vom 25. Oktober 2023
Laienbeschwerde auf Französisch
Der Beschwerdeführer hat, wie das Bundesgericht bemerkt, seine Beschwerde zulässigerweise auf Französisch verfasst (Art. 42 Abs. 1 BGG). Das Verfahren vor Bundesgericht wird in der Regel jedoch in der Sprache des angefochtenen Entscheids geführt (Art. 54 Abs. 1 BGG). Es sind für das Bundesgericht keine Gründe ersichtlich, vorliegend von dieser Regel abzuweichen. Das bundesgerichtliche Urteil ergeht deshalb in diesem Fall in deutscher Sprache (E.1).
Rügen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer wirft vor Bundesgericht der Vorinstanz Willkür (Art. 9 BV), eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Abs. 1 EMRK), des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 6 StPO), des Grundsatzes „in dubio pro reo“ und des Prinzips der Waffengleichheit sowie sinngemäss eine unzulässige antizipierte Beweiswürdigung vor (E.3).
Das Bundesgericht fasst die Kernpunkte der Vorinstanz im Urteil 7B_205/2022 vom 25. Oktober 2023 wie folgt zusammen:
«Die Vorinstanz stützt den Schuldspruch einzig auf die Aussagen des Zeugen B., der als Zivilangestellter der Regionalpolizei Oberes Fricktal für die Kontrolle des ruhenden Verkehrs in Laufenburg zuständig ist. Laut angefochtenem Urteil habe B. anlässlich einer solchen Kontrolle am 22. Februar 2019 kurz nach 8.00 Uhr festgestellt, dass der Renault des Beschwerdeführers auf einem der weissen Parkfelder am Weiherweg geparkt war. Am Nachmittag habe er kurz vor 14.00 Uhr einen erneuten Rundgang gemacht und festgestellt, dass sich das Fahrzeug des Beschwerdeführers nach wie vor unbewegt auf dem gleichen Parkfeld befunden habe. Dass das Fahrzeug nicht bewegt worden sei, habe er anhand der Ventilstellung in der Felge am linken Vorderrad eruieren können. Dies ergebe sich aus dem Rapport und habe B. anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung als Zeuge ausgesagt. Die Aussagen von B. seien glaubhaft und nachvollziehbar. Er kontrolliere den ruhenden Verkehr in seinem Einsatzgebiet mehrmals pro Woche. Es könne ihm deshalb attestiert werden, sich die Ventilstellung am Rad eines Fahrzeugs auch ohne Notiz zu merken. Das gelte zumindest dann, wenn an einem Tag nur wenige Fahrzeuge kontrolliert worden seien und er sich diejenigen mit Parkvignette gar nicht erst habe merken müssen. Weiter sei der Umstand, dass der Renault des Beschwerdeführers ein französisches Kontrollschild hat, geeignet gewesen, B. besonders gut im Gedächtnis zu bleiben. Er habe sich nur gerade die Ventilposition des „französischen Renaults“ für ein paar Stunden merken müssen, was kognitiv auch bei einer 63 Jahre alten Person ohne Weiteres möglich scheine, zumal B. in der Kontrolle des ruhenden Verkehrs geübt und erfahren sei.» (E.3.1)
«Der Beschwerdeführer beanstandet, dass die Vorinstanzen das Protokoll der Einvernahme von B. vom 5. Juli 2019 aus einem anderen Verfahren der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg (ST.2019.1279) nicht beigezogen haben. In diesem Verfahren soll B. ausgesagt haben, dass er generell nicht mit der Prüfung der Ventilstellung (oder dem Anbringen von Kreidestrichen oder sonstigen Markierungen) arbeite. Er habe auch keinen Notizblock oder ähnliches, auf dem er sich etwas notiere, und Fotos mache er nur, wenn eine Busse ausgestellt werde. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz stütze sich einzig auf die Aussage von B., wonach er sich nach mehr als fünf Stunden noch an die Ventilposition erinnert habe, ohne dass ein effektiver Beweis vorliege. Es wäre nach Auffassung des Beschwerdeführers deshalb notwendig gewesen, die von ihm angebotenen Beweise (insbesondere das fragliche Protokoll) abzunehmen und seine diesbezüglichen Argumente zu berücksichtigen.» (E.3.2)
Das Bundesgericht äussert sich in der Folge im Urteil 7B_205/2022 vom 25. Oktober 2023 generell-abstrakt wie folgt:
«Im Strafverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. Danach klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab (Art. 6 Abs. 1 StPO). Sie untersuchen die belastenden und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt (Art. 6 Abs. 2 StPO). Der Untersuchungsgrundsatz gilt sowohl für die Strafverfolgungsbehörden als auch für die Gerichte. Nur wenn das Gericht seiner Amtsermittlungspflicht genügt, darf es einen Sachverhalt als erwiesen oder nicht erwiesen ansehen und in freier Beweiswürdigung darauf eine Rechtsentscheidung gründen (BGE 147 IV 409 E. 5.3.1 mit Hinweisen). Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV sowie Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 StPO) umfasst die Pflicht der Behörde, alle erheblichen und rechtzeitigen Vorbringen der Parteien zu würdigen und die ihr angebotenen Beweise abzunehmen, wenn diese zur Abklärung des Sachverhalts tauglich erscheinen (BGE 146 IV 218 E. 3.1.1; 141 I 60 E. 3.3; je mit Hinweisen).» (E.3.3.1).
«Nach Art. 164 Abs. 1 StPO werden das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse eines Zeugen nur abgeklärt, soweit dies zur Prüfung seiner Glaubwürdigkeit erforderlich ist. Die Bestimmung nennt ganz allgemein die Voraussetzung, wann über die Person eines Zeugen – bei diesem selbst oder bei Dritten bzw. Behörden – Informationen beschafft werden dürfen, die mit dem zu untersuchenden Sachverhalt nicht in direktem Zusammenhang stehen, sondern einzig der Prüfung seiner Glaubwürdigkeit dienen. Bei der Frage, ob Abklärungen zum Vorleben und den persönlichen Verhältnissen des Zeugen zu tätigen sind, gilt der Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Der Verzicht auf Abklärungen zur Glaubwürdigkeit des Zeugen ist die Regel. Ausnahmen davon sind zulässig, wenn dies notwendig ist. Dies ist nicht bereits dann der Fall, wenn Zweifel an der allgemeinen Glaubwürdigkeit des Zeugen bestehen, sondern nur, wenn diese Zweifel auch geeignet sind, sich auf die konkrete Beweiswürdigung, d.h. die Glaubhaftigkeit von konkreten, rechtserheblichen Zeugenaussagen auszuwirken (BGE 147 IV 534 E. 2.3.1 ff. mit Hinweisen).» (E.3.3.2).
«Gemäss Art. 194 Abs. 1 StPO ziehen die Staatsanwaltschaft und die Gerichte Akten anderer Verfahren bei, wenn dies für den Nachweis des Sachverhalts oder die Beurteilung der beschuldigten Person erforderlich ist. Im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes sind Gerichte (und Staatsanwaltschaften) dazu verpflichtet. Kann das Gericht den relevanten Sachverhalt mithilfe der bereits vorhandenen Beweismittel hinreichend feststellen, darf es auf den Beizug weiterer Akten verzichten. Bestehen im Einzelfall Zweifel über die Notwendigkeit des Beizugs der fraglichen Akten, ist gestützt auf die Kriterien betreffend die antizipierte Beweiswürdigung zu entscheiden. Danach kann auf den Beizug der Akten verzichtet werden, wenn die Strafbehörde aufgrund bereits abgenommener Beweise ihre Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür annehmen kann, ihre Überzeugung werde durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert (vgl. BGE 147 IV 534 E. 2.5.1; Urteile 6B_594/2022 vom 9. August 2023 E. 9.5.3; 6B_1395/2021 vom 9. Dezember 2022 E. 8.3.1; je mit Hinweisen).» (E.3.3.3).
«Die Rüge unzulässiger antizipierter Beweiswürdigung prüft das Bundesgericht als Tatfrage nur unter dem Aspekt der Willkür (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 147 IV 534 E. 2.5.1 mit Hinweisen).» (E.3.3.4).
«Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn die vorinstanzliche Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist, d.h. wenn das Gericht in seinem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Die Willkürrüge muss in der Beschwerde anhand des angefochtenen Entscheids explizit vorgebracht und substanziiert begründet werden (Art. 106 Abs. 2 BGG). Auf ungenügend begründete Rügen oder allgemeine appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 148 IV 356 E. 2.1; 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 88 E. 1.3.1; je mit Hinweisen).» (E.3.3.5).
«Bilden ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens (Art. 398 Abs. 4 StPO), kann die Berufungsinstanz die erstinstanzliche Sachverhaltsfeststellung nur auf Willkür und damit mit beschränkter Kognition prüfen. Sie ist an den erstinstanzlich festgestellten Sachverhalt gebunden, soweit sie diesen nicht als willkürlich beurteilt. In diesem Fall prüft das Bundesgericht frei, ob die Vorinstanz auf eine gegen das erstinstanzliche Urteil vorgebrachte Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung hin zu Unrecht Willkür verneint hat. Der Beschwerdeführer muss sich bei der Begründung der Rüge, die Vorinstanz habe Willkür zu Unrecht verneint, daher auch mit den Erwägungen der ersten Instanz auseinandersetzen (Urteile 6B_584/2022 vom 14. August 2023 E. 1.3.3; 6B_1066/2021 vom 27. Januar 2022 E. 2.3.2; je mit Hinweisen).» (E.3.3.6).
Fallbezogen äussert sich das Bundesgericht im Urteil 7B_205/2022 vom 25. Oktober 2023 alsdann:
«Die Argumentation des Beschwerdeführers betreffend das Einvernahmeprotokoll des Zeugen B. im Verfahren ST.2019.1279 verdient Zustimmung. Sollte der Zeuge dort, als er zu seinen allgemeinen Arbeitspraktiken befragt wurde, tatsächlich ausgesagt haben, dass er die Ventilstellung grundsätzlich nicht prüfe, jedoch Fotos erstelle, wenn eine Busse ausgestellt wird, würde dies seine Aussagen im vorliegenden Verfahren und damit das gesamte Fundament der Verurteilung ernsthaft in Frage stellen. Zwar können neue Behauptungen und Beweise im Berufungsverfahren bei Übertretungen nach Art. 398 Abs. 4 StPO nicht vorgebracht werden. Neu im Sinne dieser Bestimmung sind aber nur Tatsachen und Beweise, die im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorgebracht wurden. Dagegen sind Beweismittel, die der ersten Instanz zwar vorgelegt, aber abgelehnt wurden, nicht neu. Der Berufungskläger kann im Berufungsverfahren daher rügen, die erstinstanzlich angebotenen Beweise seien (in antizipierter Beweiswürdigung) willkürlich abgewiesen worden (Urteile 6B_283/2020 vom 2. November 2020 E. 2.2; 6B_362/2012 vom 29. Oktober 2012 E. 8.4.1). Dies ist vorliegend geschehen, indem der Beschwerdeführer den streitigen Beweisantrag laut angefochtenem Urteil bereits vor dem Bezirksgericht gestellt und im Berufungsverfahren wiederholt und einlässlich begründet hat. Die Vorinstanz führt dazu aus, das Verfahren ST.2019.1279 stehe in keinem erkennbaren Zusammenhang zum Verfahren gegen den Beschwerdeführer. Der blosse Umstand, dass B. in einem anderen Verfahren, in dem eine Ordnungsbusse ausgestellt worden war, als Zeuge einvernommen worden sei, rechtfertige den Beizug dieser Strafakten nicht. Diese Argumentation vermag angesichts der Tatsache, dass die Angaben von B. im Verfahren ST.2019.1279 womöglich in entscheidwesentlichem Widerspruch stehen zu seinen Aussagen im vorliegenden Verfahren, welche die einzige Grundlage für den Schuldspruch bilden, nicht zu überzeugen. Stattdessen hätte die Vorinstanz weitere Abklärungen zur Glaubwürdigkeit des Zeugen tätigen müssen, denn diese sind vorliegend geeignet, sich auch auf die Glaubhaftigkeit der konkreten Aussagen auszuwirken. Da sie dies unterlassen hat, wird die Sache zur Neubeurteilung zurückgewiesen. Dabei wird die Vorinstanz in einem ersten Schritt zu prüfen haben, ob überwiegende öffentliche oder private Geheimhaltungsinteressen im Sinne von Art. 194 Abs. 2 StPO einer Edition entgegenstehen. Ist dies nicht der Fall oder können diese Interessen mit milderen Massnahmen als einem Verzicht auf Aktenbeizug gewahrt werden (zur Verhältnismässigkeit in diesem Zusammenhang siehe Urteil 1B_289/2016 vom 8. Dezember 2016 E. 3.2 mit Hinweis), wird sie das streitige Einvernahmeprotokoll von B. aus dem Verfahren ST.2019.1279 beizuziehen und bei ihrer Sachverhaltsfeststellung zu berücksichtigen haben.» (E.3.4)
Die Rüge der Verletzung des Beschleunigungsgebots findet das Bundesgericht hingegen für unbegründet (E.4).
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist den Fall an die Vorinstanz zurück (E.5).