Einzelfallbezogene Beurteilung des Vorliegens der Verletzung des Beschleunigungsgebots bei Gerichten

Im Urteil 6B_1399/2021 vom 7. Dezember 2022 stellte das Bundesgericht eine Verletzung des Beschleunigungsgebots durch das Obergericht Zürich fest. Die Berufungsverhandlung fand am 15. Januar 2021 statt. Das schriftlich begründete Berufungsurteil datiert vom 27. Oktober 2021. Damit hat das Obergericht Zürich gemäss dem Bundesgericht die von Art. 84 Abs. 4 StPO, welche als Ordnungsvorschrift angesehen wird, vorgesehene Frist klar überschritten. Aus dieser Überschreitung kann jedoch nicht automatisch auf eine Verletzung des Beschleunigungsgebots gefolgert werden. In der Vergangenheit hat das Bundesgericht dies etwa bejaht, wenn für die Urteilsbegründung ohne Vorliegen besonderer Umstände 13, zwölf, elf, acht oder mehr als sechs Monate benötigt Mit Blick auf diese Rechtsprechung und den durch das Obergericht Zürich zu beurteilenden Fragen ging das Bundesgericht hier von einer Verletzung des Beschleunigungsgebots aus (E.4.3).

Sachverhalt

Wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Raufhandel verurteilte das Bezirksgericht Zürich A. am 19. Juni 2019 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 33 Monaten, dies unter Anrechnung von 44 Tagen erstandener Haft.

Verfahrensgeschichte

A. erhob Berufung. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 27. Oktober 2021 das angefochtene Urteil im Grundsatz und ordnete zusätzlich eine ambulante Behandlung sowie für deren Dauer Bewährungshilfe an. Die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegte es mit Ausnahme derjenigen der amtlichen Verteidigung A.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1399/2021 vom 7. Dezember 2022

Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A. dem Bundesgericht, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich sei hinsichtlich der Strafzumessung, des Vollzugs der Strafe sowie der Kostenverteilung im Berufungsverfahren aufzuheben und die Angelegenheit zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter seien a) die Freiheitsstrafe von 33 Monaten angemessen zu reduzieren und b) der Vollzug der Freiheitsstrafe zugunsten der ambulanten Massnahme aufzuschieben. Für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht A. um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

Wir fokussieren uns hier nur auf eine der verschiedenen Rügen des Beschwerdeführers, diejenige der Verletzung des Beschleunigungsgebots von Art. 5 StPO: Der Beschwerdeführer macht vor Bundesgericht eine Verletzung des Beschleunigungsgebots geltend, da ihm der vorinstanzliche Entscheid erst über neun Monate nach der Hauptverhandlung eröffnet worden ist. In dieser Zeit, so sein Vorbringen, habe er keine ambulante Massnahme beginnen können. Gleichwohl sei die Verzögerung im Rahmen der Strafzumessung unberücksichtigt geblieben. (E.4.1).

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 6B_1399/2021 vom 7. Dezember 2022 zunächst wie folgt in allgemeiner Art und Weise zum Beschleunigungsgebot von Art. 5 StPO: «Gemäss Art. 5 Abs. 1 StPO nehmen die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss. Das Beschleunigungsgebot (vgl. auch Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) gilt in sämtlichen Verfahrensstadien und verpflichtet die Strafbehörden, Verfahren voranzutreiben, um die beschuldigte Person nicht unnötig über die gegen sie erhobenen Vorwürfe im Ungewissen zu lassen. Ob die Pflicht zur beförderlichen Behandlung verletzt worden ist, entzieht sich starren Regeln und hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, die in ihrer Gesamtheit zu würdigen sind. Kriterien für die Angemessenheit der Verfahrensdauer sind etwa die Schwere des Tatvorwurfs, die Komplexität des Sachverhalts, die gebotenen Untersuchungshandlungen, die Schwierigkeit und Dringlichkeit der Sache, das Verhalten der Behörden und dasjenige der beschuldigten Person sowie die Zumutbarkeit für diese (BGE 143 IV 373 E. 1.3.1; Urteile 6B_1168/2020 vom 11. Oktober 2022 E. 2.4.2; 6B_684/2022 vom 31. August 2022 E. 5.1.1; 6B_217/2022 vom 15. August 2022 E. 3.2; je mit Hinweisen).  Muss das Gericht das Urteil begründen, so stellt es gemäss Art. 84 Abs. 4 StPO innert 60 Tagen, ausnahmsweise 90 Tagen, der beschuldigten Person und der Staatsanwaltschaft das vollständig begründete Urteil zu. Dabei handelt es sich nach der Rechtsprechung um eine Ordnungsvorschrift. Deren Überschreitung führt nicht ohne Weiteres zur Annahme einer Verletzung des Beschleunigungsgebots, kann dafür aber ein Indiz darstellen (Urteile 6B_1168/2020 vom 11. Oktober 2022 E. 2.4.3; 6B_217/2022 vom 15. August 2022 E. 3.2; 6B_561/2020 vom 16. September 2020 E. 6; je mit Hinweisen). Einer Verletzung des Beschleunigungsgebots kann namentlich mit einer Strafreduktion Rechnung getragen werden (vgl. BGE 143 IV 49 E. 1.8.2; 373 E. 1.4.1; Urteile 6B_684/2022 vom 31. August 2022 E. 5.1.2; 6B_217/2022 vom 15. August 2022 E. 3.2; je mit Hinweisen).» (E.4.2)

Zur Verletzung des Beschleunigungsgebots im vorliegenden Fall äussert sich das Bundesgericht alsdann wie folgt: «Die vorinstanzliche Hauptverhandlung fand am 15. Januar 2021 statt. Das schriftlich begründete Berufungsurteil datiert vom 27. Oktober 2021. Damit hat die Vorinstanz die von Art. 84 Abs. 4 StPO vorgesehene Frist klar überschritten. Fraglich ist, ob mit dieser Überschreitung auch eine Verletzung des Beschleunigungsgebots einherging. In der Vergangenheit hat das Bundesgericht dies etwa bejaht, wenn für die Urteilsbegründung ohne Vorliegen besonderer Umstände 13, zwölf, elf, acht oder mehr als sechs Monate benötigt wurden (Urteile 6B_183/2017 vom 24. November 2017 E. 7.4; 6B_628/2015 vom 21. Dezember 2015 E. 2.4; 6B_176/2017 vom 24. April 2017 E. 2.2; 6B_202/2017 vom 23. August 2017 E. 3.3.3; 6B_42/2016 vom 26. Mai 2016 E. 5.5). Mit Blick auf diese Rechtsprechung ist vorliegend von einer Verletzung des Beschleunigungsgebots auszugehen. Im Berufungsverfahren zu beurteilen waren einzig die Strafzumessung, der bedingte oder unbedingte Vollzug der Strafe sowie die Anordnung einer ambulanten Massnahme. Auch wenn letztere einen gewissen Mehraufwand mit sich bringt, waren die sich stellenden tatsächlichen und rechtlichen Fragen nicht von besonderer Komplexität. Ausserdem macht der Beschwerdeführer zu Recht geltend, dass das Aussprechen einer therapeutischen Massnahme eine beförderliche Redaktion der Urteilsbegründung verlangt hätte. Insgesamt wiegt die Verletzung des Beschleunigungsgebots indes noch leicht, sodass sich keine Reduktion der Strafe rechtfertigt. Der Beschwerdeführer zeigt denn auch nicht näher auf, in welchem Umfang die Strafe hätte gemindert werden müssen. Die festgestellte Verletzung ist jedoch im bundesgerichtlichen Dispositiv festzustellen. Damit, und in Verbindung mit einer für den Beschwerdeführer vorteilhaften Kostenregelung, wird ihm gemäss Rechtsprechung eine hinreichende Wiedergutmachung verschafft (vgl. BGE 147 I 259 E. 1.3.3; 138 II 513 E. 6.5; 136 I 274 E. 2.3; Urteil 6B_1147/2020 vom 26. April 2021 E. 2.4; 6B_176/2017 vom 24. April 2017 E. 2.2; je mit Hinweisen).» (E.4.3)

Das Bundesgericht hiess im Urteil 6B_1399/2021 vom 7. Dezember 2022 die Beschwerde teilweise gut und stellte fest, dass die Vorinstanz das Beschleunigungsgebot verletzt hat (E.5).

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