Sachverhalt
Die Jugendanwaltschaft Unterland führt eine Strafuntersuchung gegen A. (geb. 2008) wegen versuchten Mordes etc. Sie wirft ihm vor, am 2. März 2024 mit einem mitgeführten Küchenmesser mehrfach auf ein jüdisch-orthodoxes Opfer eingestochen und dieses dadurch lebensgefährlich verletzt zu haben. Am 8. März 2024 stellte die Jugendanwaltschaft beim Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Dielsdorf den Antrag auf Verlängerung der angeordneten Untersuchungshaft um einen Monat und beantragte, dass der amtlichen Verteidigung untersagt werde, die eingereichten Haftakten A. und dessen gesetzlicher Vertretung in irgendwelcher Form (physisch, elektronisch etc.) zugänglich zu machen.
Instanzenzug
Mit Verfügung vom 8. März 2024 untersagte das Zwangsmassnahmengericht der amtlichen Verteidigung einstweilen, A. und seiner gesetzlichen Vertretung die Haftakten in irgendwelcher Form weiterzuleiten oder sonst wie zugänglich zu machen. Im Übrigen verlängerte es die Untersuchungshaft.
Gegen die Verfügung vom 8. März 2024 betreffend Verbot der Aktenherausgabe erhob A. am 18. März 2024 Beschwerde an das Obergericht des Kantons Zürich. Dieses wies die Beschwerde mit Beschluss vom 22. Mai 2024 ab (Dispositiv-Ziffer 1). Es setzte die Gerichtsgebühr auf Fr. 1’000.– fest (Dispositiv-Ziffer 2) und auferlegte die Kosten des Beschwerdeverfahrens A. (Dispositiv-Ziffer 3).
Weiterzug ans Bundesgericht
Mit Eingabe vom 24. Juni 2024 führt A. Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des Beschlusses vom 22. Mai 2024, eventualiter die Rückweisung an die Vorinstanz zur Neubeurteilung. Subeventualiter sei Dispositiv-Ziffer 3 des Beschlusses so abzuändern, dass die Regelung der Kosten dem Endentscheid vorbehalten werde.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_696/2024 vom 24. Juni 2025
Zur Anfechbarkeit des Beschlusses bzw. Zwischenedscheids
Angefochten ist vor Bundegericht ein letztinstanzlicher Entscheid betreffend ein Verbot der Aktenherausgabe. Dagegen steht gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen offen (E.1.1).
Das Bundesgericht äussert sich hierzu im Urteil 7B_696/2024 vom 24. Juni 2025 wie folgt:
«Mit dem Verbot der Aktenherausgabe an den Beschwerdeführer persönlich ist vorliegend ein Teilbereich der Akteneinsicht betroffen. Die Akten dürfen dem Beschwerdeführer einstweilen nicht zugänglich gemacht werden. Gemäss der Vorinstanz ist darunter die physische bzw. elektronische oder sonstige Herausgabe und damit das Überlassen der Haftakten gemeint, nicht aber die Einsicht des Beschwerdeführers in die Akten […]. Eine vorläufige Beschränkung der Akteneinsicht bewirkt nach der bundesgerichtlichen Praxis grundsätzlich keinen nicht wieder gutzumachenden Rechtsnachteil, da sie – wie die Ablehnung von Beweisanträgen oder jede andere potenzielle Verweigerung des rechtlichen Gehörs – in der Regel auch noch bei der Anfechtung des Endentscheids wirksam gerügt werden kann (vgl. Urteil 7B_523/2023 vom 2. Juli 2024 E. 1.4 mit Hinweisen). Dies gilt zwar grundsätzlich auch im Strafprozessrecht, zumal die Parteien des Vorverfahrens noch bis zum Abschluss der Untersuchung Akteneinsichtsgesuche und Beweisanträge stellen können, die jeweils von der Staatsanwaltschaft förmlich zu prüfen sind (vgl. Art. 3 JStPO in Verbindung mit Art. 101 f. und Art. 107 Abs. 1 lit. a, Art. 109 StPO). Im Strafverfahren hat das Akteneinsichtsrecht jedoch einen besonderen Stellenwert. Es ist zu beachten, dass gemäss Art. 101 Abs. 1 StPO die Parteien – unter dem Vorbehalt von Art. 108 StPO – spätestens nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft die Akten einsehen dürfen. Dieser Regelung ist auch bei der Prüfung eines drohenden nicht wieder gutzumachenden Rechtsnachteils (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) Rechnung zu tragen (vgl. Urteil 7B_523/2023 vom 2. Juli 2024 E. 1.4 mit Hinweisen).» (E.1.2.2).
«Im vorliegenden Fall erscheint der dem Beschwerdeführer drohende nicht wieder gutzumachende Rechtsnachteil ausreichend erkennbar bzw. dargelegt. Die erste Einvernahme des Beschwerdeführers als Beschuldigter hat stattgefunden. Er ist geständig und es liegt ein Bekennervideo der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Tat vor, weshalb auch die wichtigsten Beweise als erhoben erscheinen und die Voraussetzungen für die Akteneinsicht grundsätzlich erfüllt sind (vgl. Art. 101 StPO). Die konkrete Tragweite der auferlegten Beschränkung der Akteneinsicht bzw. des Verbots auf Aktenherausgabe ist sodann nicht ihm Rahmen der Eintretensprüfung zu beurteilen, sondern hiernach. Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich folglich um einen selbstständig anfechtbaren Zwischenentscheid (vgl. Urteil 1B_474/2019 vom 6. Mai 2020 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 146 IV 218; Urteil 1B_439/2012 vom 8. November 2012 E. 2).» (E.1.2.3).
Zur Verweigerung des Akteneinsichtsrechts
Der Beschwerdeführer macht vor Bundesgericht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Er rügt im Wesentlichen eine Verletzung seines Akteneinsichtsrechts, da es seiner Verteidigung untersagt worden sei, ihm die Akten in irgendwelcher Weise zugänglich zu machen. Durch dieses Verbot der Aktenherausgabe an ihn persönlich werde Art. 3 Abs. 1 JStPO in Verbindung mit Art. 108 Abs. 1 StPO verletzt (E.2).
Das Bundesgericht äussert sich hierzu im Urteil 7B_696/2024 vom 24. Juni 2025 zunächst generell-abstrakt wie folgt:
«Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Dieser Anspruch wird für den Strafprozess in Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 Abs. 1 StPO wiederholt. Das rechtliche Gehör umfasst insbesondere auch das Recht der betroffenen Person auf Einsicht in die Akten (vgl. Art. 107 Abs. 1 lit. a StPO; BGE 146 IV 218 E. 3.1.1; 144 II 427 E. 3.1; Urteil 7B_780/2024 vom 18. Oktober 2024 E. 3.2; je mit Hinweisen). Das Recht auf Akteneinsicht ist jedoch nicht absolut. Art. 101 Abs. 1 StPO behält ausdrücklich Art. 108 StPO vor, der namentlich vorsieht, dass die Strafbehörden das rechtliche Gehör und demzufolge die Akteneinsicht einschränken können, wenn der begründete Verdacht besteht, dass eine Partei ihre Rechte missbraucht (lit. a) oder wenn dies für die Sicherheit von Personen oder zur Wahrung öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist (lit. b). Einschränkungen gegenüber Rechtsbeiständen sind nur zulässig, wenn der Rechtsbeistand selbst Anlass für die Beschränkung gibt (Abs. 2). Die Einschränkungen sind zu befristen oder auf einzelne Verfahrenshandlungen zu begrenzen (Abs. 3). Besteht der Grund für die Einschränkung fort, so dürfen die Strafbehörden Entscheide nur so weit auf Akten, die einer Partei nicht eröffnet worden sind, stützen, als ihr von deren wesentlichem Inhalt Kenntnis gegeben wurde (Abs. 4). Bei der Einschränkung des Akteneinsichtsrechts kommt den Strafbehörden ein gewisses Ermessen zu (Urteil 1B_37/2023 vom 13. Juni 2023 E. 3.1 mit Hinweisen). Einschränkungen des Akteneinsichtsrechts müssen indessen mit Zurückhaltung und unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips angeordnet werden (BGE 146 IV 218 E. 3.1.2 mit Hinweisen). Der Verfahrensleitung obliegt es, über die Akteneinsicht zu entscheiden. Sie ergreift in diesem Rahmen die nötigen Massnahmen, um Missbräuche und die Verzögerungen zu verhindern und berechtigte Geheimhaltungsinteressen zu schützen (Art. 102 Abs. 1 StPO).» (E.2.2).
Fallbezogen fährt das Bundesgericht im Urteil 7B_696/2024 vom 24. Juni 2025 fort:
«Vorliegend soll durch das Verbot der Aktenherausgabe die Sicherheit des Opfers bzw. seiner Familie gewährleistet werden, die Repressalien durch den Beschwerdeführer und sein Umfeld befürchten. Dies soll erreicht werden, indem verhindert wird, dass der Beschwerdeführer relevante Aktenstücke missbräuchlich in den Medien oder innerhalb des IS-Netzwerkes verbreitet. Das Verbot, dem Beschwerdeführer die Akten zugänglich zu machen, soll jegliches Risiko ausschliessen, dass er die Untersuchungsakten zu Propagandazwecken verwendet und publiziert, wodurch das Opfer bzw. seine Familie Repressalien befürchten müssten. Dies gilt umso mehr, als sich der Beschwerdeführer nicht mehr in Untersuchungshaft im engeren Sinne befindet, sondern in einer (geschlossenen) Einrichtung für Jugendliche. Die Vorinstanz erwog, im „digitalen Zeitalter“ bestehe trotz der Unterbringung des Beschwerdeführers in einer geschlossenen Einrichtung die Gefahr der Verbreitung.
Die Beurteilung ist von Bundesrechts wegen nicht zu beanstanden. Die kantonalen Behörden haben konkreten Anlass zur Befürchtung, dass durch ein Zugänglichmachen der Haftakten für den radikalisierten Beschwerdeführer, der sich im IS-Umfeld bewegt bzw. bewegt hat, die Persönlichkeitsrechte des Opfers bzw. seiner Familie verletzt werden könnten. Diese Gründe für das Verbot der Aktenherausgabe an den Beschwerdeführer persönlich fallen unter Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 JStPO. Es liegen daher, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, berechtigte und überwiegende Geheimhaltungs- und Schutzinteressen für die angeordnete Beschränkung vor. Inwieweit darüber hinaus auch die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers als schutzbedürftiger Jugendlicher das Verbot der Aktenherausgabe rechtfertigen, kann insoweit offenbleiben. Wenn die Vorinstanz festhält, dass das Verbot der Aktenherausgabe an den Beschwerdeführer geeignet und erforderlich ist, um ihn in seiner gegenwärtigen Situation vor sich selbst bzw. vor einer weiteren Radikalisierung zu schützen, ist dies immerhin nachvollziehbar. Die Vorinstanz begründet dies damit, dass der Beschwerdeführer eine Radikalisierung durchlaufen und zunehmend extremere religiöse, politische und soziale Ansichten angenommen habe. Zudem habe er mutmasslich bereits Bestrebungen unternommen, diese Ansichten mit extremer Gewaltanwendung umzusetzen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Einschätzung der Vorinstanz jedenfalls nicht als unhaltbar.» (E.2.3.1).
«Die vorliegende Beschränkung der Akteneinsicht erweist sich auch unter Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten als gerechtfertigt. Das Verbot der Aktenherausgabe an den Beschwerdeführer betrifft wie erwähnt das „Zugänglichmachen“, mithin die physische bzw. elektronische oder sonstige Herausgabe und damit das Überlassen der Haftakten. Dem Beschwerdeführer dürfen keine Kopien der Akten herausgegeben werden und diese dürfen ihm auch sonst nicht physisch oder elektronisch zugänglich gemacht werden (z.B. kein Abfotografieren der Akten, keine Scans etc.). Die Akten werden dem Beschwerdeführer durch das Verbot des Besitzes von Kopien aber nicht vorenthalten. Wie die Vorinstanz festhält, steht dem Beschwerdeführer die Einsicht und damit das Studium der Haftakten, entgegen seiner Auffassung, offen.
Die aufwändigere und umständlichere Gestaltung der Arbeit der Verteidigung, wenn dem Beschwerdeführer bzw. der gesetzlichen Vertretung keine Kopien (digital oder auf Papier) der Haftakten für das Selbststudium vorab oder im Nachhinein überlassen werden dürfen, ist unter den genannten Umständen erforderlich und hinzunehmen. In diesem Sinne entschied das Bundesgericht auch im Urteil 1B_439/2012 vom 8. November 2012. In dem Verfahren ging es darum, eine mögliche Identifizierung des Verfassers eines Briefes zu verhindern. Das Gericht erachtete es als verhältnismässig, nur dem Verteidiger Einsicht in einen Brief zu gewähren, ohne ihm das Recht einzuräumen, eine Fotokopie des Briefes anzufertigen oder den Brief mit in die Kanzlei zu nehmen. Das Bundesgericht erwog, dass die genehmigte Einsichtnahme die Kenntnisnahme vom wesentlichen Inhalt des Dokuments ermögliche und somit kein unverhältnismässiger Eingriff in den Anspruch auf rechtliches Gehör vorliege (Urteil 1B_439/2012 vom 8. November 2012 E. 2.3). Ebenso erachtete es das Bundesgericht in einem Fall als zulässig, dass nur dem Verteidiger Einsicht in die Video-Einvernahme eines kindlichen Opfers gewährt wurde und keine Kopien angefertigt werden durften (Urteil 1B_445/2012 vom 8. November 2012). Vorliegend erweist sich denn auch eine Schwärzung der Namen des Opfers bzw. seiner Familie anstelle eines Verbots der Aktenherausgabe an den Beschwerdeführer als ungeeignet. Die konkreten Tatumstände könnten dennoch in den einschlägigen Foren veröffentlicht und zu Propagandazwecken missbraucht werden. Dem Risiko einer solchen Verbreitung kann nur begegnet werden, indem die Akten ausschliesslich dem Anwalt übergeben werden und von diesem verlangt wird, dass er keine Kopien an seinen Mandanten bzw. dessen gesetzlichen Vertreter weitergibt. Nach dem Gesagten liegt im Verbot der Aktenherausgabe an den Beschwerdeführer persönlich, wie von der Vorinstanz festgehalten, keine wesentliche Beeinträchtigung des Rechts auf eine wirksame Verteidigung und auch kein schwerer Eingriff in das Akteneinsichtsrecht. Das Verbot erweist sich als geeignet, erforderlich und zumutbar.» (E.2.3.2).
«Unter diesen Umständen ist es mit dem Bundesrecht vereinbar, dass die kantonalen Instanzen das Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers gestützt auf Art. 3 Abs. 1 JStPO in Verbindung mit Art. 101 Abs. 1 sowie Art. 107 Abs. 1 lit. a und Art. 108 Abs. 1 lit. a und lit. b StPO in der Weise vorläufig eingeschränkt haben, dass die Verteidigung dem Beschwerdeführer bzw. dessen gesetzlichen Vertreter die Haftakten nicht zugänglich machen darf. Der angefochtene Entscheid steht sowohl mit den Vorschriften der StPO als auch mit Art. 29 Abs. 2 BV im Einklang.» (E.3).
Auf die weiteren Rügen wird hier nicht eingegangen (E.4, E.5).
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab.