Ein grenzwertiger Mord

Im Urteil 6B_966/2022 vom 17. April 2023 aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit einem Tötungsdelikt und der Frage der Qualifikation als Mord im Sinne von Art. 112 StGB. Nach eingehender Auseinandersetzung mit der rechtlichen Qualifikation der Vorinstanz nahm das Bundesgericht einen Grenzfall von Mord, aber eben doch einen Mord an: ««Zusammenfassend verletzt der Schuldspruch wegen versuchten Mordes im Sinne von Art. 112 StGB kein Bundesrecht, auch wenn es sich vorliegend um einen Grenzfall handelt.» (E.2.4.4)

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland wirft A. in der Anklageschrift vom 19. März 2019 vor, am 30. Juli 2016 seiner ehemaligen Partnerin, B., in der Absicht, sie zu töten, mit einem Messer mehrere Stich- bzw. Schnittverletzungen zugefügt zu haben. Ferner habe er in der Zeit zwischen August 2014 und Oktober 2015 in ihrer damaligen gemeinsamen Wohnung mehrmals gegen den von B. vorgängig bekundeten Willen Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt.

Instanzenzug

Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland sprach A. am 11. Dezember 2019 vom Vorwurf der mehrfachen Vergewaltigung frei und verurteilte ihn wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren. Es beurteilte die Zivilklagen, regelte die Kosten- und Entschädigungsfolgen sowie erliess weitere Verfügungen.

Gegen dieses Urteil meldeten alle Parteien Berufung an.

Das Obergericht des Kantons Bern stellte am 29. November 2021 die Verletzung des Beschleunigungsgebots und die teilweise Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils fest. Es erklärte A. des versuchten Mordes sowie der mehrfachen Vergewaltigung schuldig und bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von 17 Jahren. Es regelte die Kosten- und Entschädigungsfolgen, entschied über die Zivilklagen, sowie traf weitere Verfügungen.

Der A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache sei zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_966/2022 vom 17. April 2023

Der Beschwerdeführer wendet sich vor Bundesgericht u.a. gegen die Würdigung seines Messerangriffs auf die Beschwerdegegnerin 2 als versuchter Mord und macht geltend, es sei von einer versuchten vorsätzlichen Tötung auszugehen (E.2.1). Diese Rüge schauen wir uns hier genauer an.

Das Bundesgericht äusserte sich im Urteil 6B_966/2022 vom 17. April 2023 wie folgt zu den Tatbeständen der vorsätzlichen Tötung und des Mordes:

«Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft (Art. 111 StGB). Handelt der Täter besonders skrupellos, sind namentlich sein Beweggrund, der Zweck der Tat oder die Art der Ausführung besonders verwerflich, so macht er sich des Mordes strafbar und ist die Strafe lebenslängliche Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren (vgl. Art. 112 StGB). Ein Versuch liegt vor, wenn der Täter sämtliche subjektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt und seine Tatentschlossenheit manifestiert hat, ohne dass alle objektiven Tatbestandsmerkmale verwirklicht sind (vgl. Art. 22 Abs. 1 StGB; BGE 140 IV 150 E. 3.4; 137 IV 113 E. 1.4.2; 131 IV 100 E. 7.2.1; je mit Hinweisen).  

Eine vorsätzliche Tötung stellt sich als Mord dar, wenn fremdes Leben aussergewöhnlich krass missachtet wird. Die Generalklausel „besondere Skrupellosigkeit“ wird durch eine nicht abschliessende Aufzählung qualifizierender Merkmale konkretisiert. Neben den Absichten und Motiven des Täters (Beweggründe, Ziel und Zweck) können auch Faktoren massgebend sein, die dem nach aussen hin in Erscheinung tretenden Tathergang zuzuordnen sind. Indessen lässt sich auch die Art der Ausführung nicht losgelöst von inneren Faktoren beurteilen, muss sie doch ebenfalls Ausdruck einer besonders skrupellosen Haltung des Täters sein. Art. 112 StGB erfasst den skrupellosen, gemütskalten, krass und primitiv egoistischen Täter ohne soziale Regungen, der sich zur Verfolgung seiner Interessen rücksichtslos über das Leben anderer Menschen hinwegsetzt. Die Art der Tatausführung ist besonders verwerflich, wenn sie unmenschlich oder aussergewöhnlich grausam ist resp. wenn dem Opfer mehr physische oder psychische Schmerzen, Leiden oder Qualen zugefügt werden, als sie mit einer Tötung ohnehin verbunden sind. Massgebend sind in erster Linie die Merkmale der Tat selbst. Vorleben und Verhalten nach der Tat sind nur zu berücksichtigen, soweit sie einen Bezug zur Tat aufweisen und zur Klärung der Täterpersönlichkeit beitragen. Entscheidend ist eine Gesamtwürdigung der inneren und äusseren Umstände. Dabei können besonders belastende Momente durch entlastende ausgeglichen werden; die Tötung kann auch erst aufgrund des Zusammentreffens mehrerer belastender Umstände, die je einzeln womöglich nicht ausgereicht hätten, als besonders skrupelloses Verbrechen erscheinen. Eine besondere Skrupellosigkeit kann beispielsweise fehlen, wenn das Tatmotiv einfühlbar und nicht krass egoistisch war, so etwa, wenn die Tat durch eine schwere Konfliktsituation ausgelöst wurde (vgl. BGE 144 IV 345 E. 2.1; 141 IV 61 E. 4.1; 127 IV 10 E. 1a; Urteile 6B_1088/2022 vom 16. Januar 2023 E. 5.3.2; 6B_1073/2022 vom 11. November 2022 E. 3.5.3; 6B_665/2022 vom 14. September 2022 E. 6.3; je mit Hinweisen). 

Unter das Mordmerkmal der Heimtücke fällt die Ausnutzung besonderer Arg- und Wehrlosigkeit, so etwa wenn der Ehegatte oder nahe Blutsverwandte im Schlaf getötet werden oder wenn das Opfer, zu dem der Täter eine Liebesbeziehung unterhalten hatte, unter bewusster Ausnutzung seiner Arglosigkeit in einen Hinterhalt gelockt wird (vgl. BGE 101 IV 279 E. 2; Urteile 6B_1088/2022 vom 16. Januar 2023 E. 5.3.2; 6B_665/2022 vom 14. September 2022 E. 6.3; 6B_55/2015 vom 7. April 2015 E. 2.1; 6B_678/2013 vom 3. Februar 2014 E. 6.3; je mit Hinweisen). 

Besonders verwerfliche Beweggründe liegen etwa vor, wenn mit der Tötung ohne ernsthaften Grund Rache geführt wird, beispielsweise wegen einer aufgelösten Liebesbeziehung (BGE 141 IV 61 E. 4.1 mit Hinweis; Urteil 6B_877/2014 vom 5. November 2014 E. 6.2, nicht publ. in: BGE 141 IV 465; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2019, N. 11 zu Art. 112 StGB).» (E.2.3)

Zur Qualifikation als Mord durch Vorinstanz äusserte sich das Bundesgericht anschliessend wie folgt:

«Gemäss den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen (vgl. Art. 105 Abs. 1 BGG) stach der Beschwerdeführer auf die Beschwerdegegnerin 2 ein, weil sie die Beziehung mit ihm aufgelöst hatte und ein eigenes Leben führte, in dem er keinen Platz mehr hatte. Der Beschwerdeführer schob den Anspruch der Beschwerdegegnerin 2 auf Leben und Freiheit beiseite und sah nur noch seine eigene Person und seinen eigenen Willen. Er nahm ohne ernsthaften Grund Rache dafür, dass sie die Liebesbeziehung mit ihm aufgelöst hatte. Dieses Handeln aus Rache zeugt von extremem Egoismus und Geringschätzung des Lebens der Beschwerdegegnerin 2. Dieses Tatmotiv ist weder einfühlbar noch entschuldbar. Vielmehr wollte er die Beschwerdegegnerin 2 aus nichtigem Anlass töten. Die Beweggründe des Beschwerdeführers erweisen sich folglich ohne jeden Zweifel als besonders verwerflich (vgl. Urteile 6B_540/2017 vom 16. Oktober 2017 E. 2.4; 6B_328/2016 vom 6. Februar 2017 E. 3.2 f.; 6B_1197/2015 vom 1. Juli 2016 E. 2.2; 6B_877/2014 vom 5. November 2015 E. 6.3, nicht publ. in: BGE 141 IV 465; 6B_719/2012 vom 13. Mai 2013 E. 1.6; 6P.46/2006 vom 31. August 2006 E. 9.3; 6S.435/2005 vom 16. Februar 2006 E. 1.2; 6S.357/2004 vom 20. Oktober 2004 E. 2.2; 6S.21/2003 vom 11. März 2003 E. 2.2).» (E.2.4.1)

«Indizien für die besondere Skrupellosigkeit ergeben sich auch aus der Ausführung der Tat, wobei dem Beschwerdeführer diesbezüglich beizupflichten ist, dass seine Vorgehensweise nicht im eigentlichen Sinne als heimtückisch bezeichnet werden kann, da er die Beschwerdegegnerin 2 nicht durch List in einen Hinterhalt gelockt oder er ein zuvor erschlichenes Vertrauen ausgenutzt hat (vgl. Urteil 6B_665/2022 vom 14. September 2022 E. 6.4 mit einer Auflistung von Beispielfällen mit heimtückischem Vorgehen).  

Mit der Vorinstanz und der Beschwerdegegnerin 2 ist die Vorgehensweise des Beschwerdeführers jedoch als besonders grausam zu qualifizieren. Gemäss den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen öffnete der Beschwerdeführer auf dem Weg zum Hauseingang sein Messer und näherte sich der Beschwerdegegnerin 2 von hinten, ohne ein Wort zu sagen. Er versetzte sie sodann in eine ausweglose Situation, indem er sie im Hauseingang, eingesperrt zwischen der verschlossenen Haustüre und ihm, ansprach und sie überraschend angriff. Die Beschwerdegegnerin 2 sah das Messer zu keinem Zeitpunkt und war entsprechend nicht auf einen Angriff vorbereitet (vgl. Urteil S. 34 f.). Aufgrund der engen räumlichen Verhältnissen und des Grössenunterschieds zwischen ihnen, konnte sich die Beschwerdegegnerin 2 weder hinreichend schützen noch fliehen, und war dem Beschwerdeführer somit völlig ausgeliefert. Er hat ihre Wehrlosigkeit gnadenlos ausgenutzt und mit einem spitzen Messer, mit einer Klingenlänge von 9.8 cm heftig sowie gezielt in ihre linke Körperhälfte eingestochen und sie damit schwer verletzt. Ein Stich erfolgte in den Brustkorb und verletzte die Lunge. Drei Stiche gingen in den Oberbauch, wovon einer den Pankreasschwanz und die Magenvorder- sowie die Magenhinterwand verletzte, ein anderer Stich erfolgte in die Milz. Von den drei Stichen in den Oberbauch drang einer mindestens 10 cm und die übrigen zwei mindestens 4 bis 5 cm ein. Zwei Verletzungen am Oberschenkel resultierten aus einem Durchstich, wobei von einer tangentialen Eindringtiefe von zirka 10 cm auszugehen ist. Die Stiche waren gemäss gutachterlicher Einschätzung geeignet, das Herz der Beschwerdegegnerin 2 zu erreichen, und bewirkten eine besonders nahe Lebensgefahr (Urteil S. 34 f.). Die Beschwerdegegnerin 2 schützte sich nach dem ersten, unerwarteten Stich in den Pankreasschwanz mit ihren Armen und leistete Widerstand (Urteil S. 35). Der Beschwerdeführer hat jedoch erst, aber immerhin von ihr abgelassen, als sie ihm – bereits am Boden liegend – einen Fusstritt versetzte, der ihn in seinem gleichbleibenden und wiederholenden Zustechen unterbrach (vgl. Urteil S. 38). Da er sein Vorhaben nicht zu Ende brachte und schliesslich den Notruf alarmierte, erscheint fraglich, ob von einem eigentlichen Vernichtungswillen ausgegangen werden kann. Jedenfalls hat er mit seinem mindestens fünfmaligen, wuchtigen und zielgerichteten Zustechen, seine Entschlossenheit, die ihm schutzlos ausgelieferte Beschwerdegegnerin 2 zu töten, bis zu deren Fusstritt auf grausame Art und Weise gezeigt. Soweit der Beschwerdeführer sinngemäss geltend macht, da die Beschwerdegegnerin 2 die Attacke überlebt habe, gehe die Grausamkeit nicht über jene hinaus, die jedem Tötungsversuch immanent sei, kann ihm nicht gefolgt werden. Das Ausbleiben des Erfolgs schliesst nicht aus, dass die Tatausführung ausserordentlich grausam ist.» (E.2.4.2)

«Es ist schliesslich nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz festhält, der Beschwerdeführer habe ein berechnendes, gefühlskaltes Verhalten gezeigt, in dem er seine Tochter während der Tat in der Nähe warten und die blutüberströmte Beschwerdegegnerin 2 nach der Tat emotionslos am Boden liegen liess. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, die Vorinstanz verfalle in Willkür, wenn sie davon ausgehe, sein Nachtatverhalten sei prozesstaktisch motiviert gewesen, genügen seine Ausführungen den qualifizierten Begründungsanforderungen an die Willkürrüge nicht (vgl. hierzu BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 114 E. 2.1, 88 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). Er beschränkt sich darauf, geltend zu machen, in den Akten fände sich kein einziger Anhaltspunkt, der für die Sichtweise der Vorinstanz sprechen würde (Beschwerde S. 13 f.), ohne sich jedoch mit den Erwägungen der Vorinstanz, mit welchen sie ihren Schluss begründet (vgl. Urteil S. 37), auseinanderzusetzen. Auf die Beschwerde kann daher in diesem Punkt nicht eingetreten werden. Auch das Verhalten des Beschwerdeführers vor der Tat ist nicht geeignet, diese in ein anderes Licht zu rücken. Gemäss den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen hat der Beschwerdeführer die Tat geplant. Er war zum Tatzeitpunkt nicht über die Trennung hinweg, hatte in der Vergangenheit oft die Nähe der Beschwerdegegnerin 2 gesucht und sie mehrmals mit dem Tod bedroht (vgl. Urteil S. 36).» (E.2.4.3)

Das Bundesgericht kommt im Urteil zur Schlussfolgerung: «Zusammenfassend verletzt der Schuldspruch wegen versuchten Mordes im Sinne von Art. 112 StGB kein Bundesrecht, auch wenn es sich vorliegend um einen Grenzfall handelt.» (E.2.4.4)

Auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers wird hier nicht eingegangen.

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