Bundesanwaltschaft klagt ehemaligen algerischen Verteidigungsminister an

Die Bundesanwaltschaft hat am 28. August 2023 beim Bundesstrafgericht Anklage gegen den ehemaligen algerischen Verteidigungsminister und HCE-Mitglied Khaled NEZZAR eingereicht. Gemäss der Anklageschrift wird ihm vorgeworfen, zwischen 1992 und 1994 im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Algerien gegen das Kriegsvölkerrecht gemäss den Genfer Konventionen verstossen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Insbesondere soll er wissentlich und willentlich Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen, Verletzungen der körperlichen und psychischen Unversehrtheit, willkürliche Inhaftierungen und Verurteilungen sowie extralegale Hinrichtungen zumindest gebilligt, koordiniert und gefördert haben.

In der nach umfangreichen Ermittlungen (BA) und Befragungen von 24 Personen beim Bundesstrafgericht (BStGer) eingereichten Anklageschrift führt die Bundesanwaltschaft nachfolgenden Sachverhalt an:

Geschichtlicher Hintergrund

Nach sozialen Unruhen wurde in Algerien im Februar 1989 mit einer neuen Verfassung das Mehrparteiensystem eingeführt, in dessen Folge auch die politische Partei «Front Islamique du Salut“ (FIS) gegründet wurde. Nach dem Rücktritt des amtierenden Präsidenten von seiner Funktion als Verteidigungsminister im Jahr 1990 – ein Amt, welches bisher an das Präsidium gebunden war – wurde der Stabschef der Armee, Khaled NEZZAR, Verteidigungsminister. Damit wurden ihm die Sicherheitskräfte und wenige Monate später auch die Geheimdienste unterstellt. Im Dezember 1990 veröffentlichte die von NEZZAR geführte Volksarmee ein Memorandum, welches einem Aktionsplan zum bewaffneten Kampf gegen die islamistische Opposition vorsah. Nachdem die FIS beim ersten Wahlgang der Parlamentswahlen die Mehrheit gewonnen hatte, kam es zu weiteren Unruhen, worauf der algerische Staat die Wahlen stoppte und auf unbestimmte Zeit verschob. In der Folge bildeten sich bewaffnete Gruppierungen der Opposition. Angesichts der Vorkommnisse und nach der Auflösung des Parlaments und dem Rücktritt des Präsidenten Chadli BENJEDID wurde das «Haut comité d’Etat» (HCE) – mit NEZZAR als Mitglied – gegründet, welches die Kontinuität des Staates und die Voraussetzungen für das Funktionieren der Institutionen und der verfassungsmässigen Ordnung gewährleisten sollte. Am 9. Februar 1992 verhängte das HCE den Ausnahmezustand und die massgeblich von NEZZAR 1990 geplante Politik zur Ausrottung der islamistischen Bewegungen wurde umgesetzt. Während des auch «décennie noire» genannten Bürgerkrieges zwischen 1992 und 1999 sollen gemäss verschiedenen öffentlichen Quellen bis zu 200’000 Menschen getötet und rund 1,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben worden sein. Weitere 20’000 Personen sollen verschwunden sein.

Eröffnung der Strafuntersuchung gegen NEZZAR

Die BA eröffnete 2011 nach einer Anzeige der Nichtregierungsorganisation TRIAL International ein Strafverfahren gegen den sich zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz aufhaltenden Khaled NEZZAR wegen des Verdachts der Kriegsverbrechen gemäss Art. 108 und 109 des Militärstrafgesetzes vom 13. Juni 1927 [aMStG]), begangen während des Bürgerkrieges in Algerien. 2017 hat die BA das Verfahren eingestellt mit der Begründung, dass es sich beim algerischen Bürgerkrieg nicht um einen internen bewaffneten Konflikt im Sinne des Gesetzes gehandelt habe, weshalb die Schweiz nicht für die Beurteilung allfälliger Kriegsverbrechen zuständig sei. Auf Beschwerde entschied das Bundesstrafgericht hingegen, dass die Zusammenstösse eine Intensität an Gewalt aufgewiesen hätten, die sie als bewaffneten Konflikt im Sinne des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen und der diesbezüglich ergangenen internationalen Rechtsprechung erscheinen liessen. Darüber hinaus erachtete die Beschwerdekammer die Opposition als hinreichend organisiert, um sie als bewaffnete Gruppierung im Sinne der Abkommen anzusehen. In der Folge nahm die Bundesanwaltschaft das Strafverfahren wieder auf. Nach Befragung von insgesamt 24 Personen hat sie nun Anklage eingereicht.

Zur Anklage gebrachte Straftatbestände

Gemäss Anklageschrift macht die BA geltend, dass Khaled NEZZAR als einflussreiche Person in Algerien in seiner Eigenschaft und Funktion als Verteidigungsminister sowie HCE-Mitglied Vertrauensleute in Schlüsselpositionen eingesetzt sowie wissentlich und willentlich Strukturen geschaffen hat, um gemäss seinem Aktionsplan die islamistische Opposition auszurotten. Dabei kam es zu Kriegsverbrechen sowie zu einem ausgedehnten und systematischen Angriff auf Personen der Zivilbevölkerung, welche beschuldigt wurden, mit den Opponierenden zu sympathisieren.

Namentlich hat die BA elf Sachverhalte mit jeweils mehreren Tatvorwürfen, welche sich zwischen 1992 und 1994 ereignet haben, dokumentiert. Den mutmasslichen Opfern sollen Folter mit Wasser und/oder Stromstössen und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen sowie Verletzungen der körperlichen und psychischen Unversehrtheit zugefügt worden sein. Zudem sei es zu willkürlichen Inhaftierungen und Verurteilungen sowie extralegalen Exekutionen gekommen. Jeden dieser Fälle nahm NEZZAR gemäss Anklage wissentlich und willentlich in Kauf, koordinierte ihn oder ordnete ihn an. Ihm wird demnach vorgeworfen, das Kriegsvölkerrecht gemäss Art. 3 der Genfer Abkommen vom 12. August 1949 in Verbindung mit Art. 4 und 6 des Zweiten Zusatzprotokolls von 1977 zu den Genfer Abkommen verletzt zu haben, was gemäss Art. 109 Abs. 1 des Militärstrafgesetzes in der zur Tatzeit gültigen Fassung (aMStG) in Verbindung mit Art. 108 Abs. 2 aMStG strafbar ist, und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 264a StGB) begangen zu haben.

Die BA wird ihre Anträge anlässlich der Hauptverhandlung vor dem BStGer in Bellinzona stellen. Für den Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung bis zum rechtskräftigen Urteil. Mit Einreichung der Anklage ist das BStGer für weitere Informationen zuständig.

Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen in der Schweiz vor 2011:
Gestützt auf das aMStG sind Kriegsverbrechen seit 1968 in der Schweiz strafbar, unabhängig vom Tatort und der Staatsangehörigkeit des Täters oder des Opfers. Art. 109 aMStG stellt dabei ausdrücklich die Verletzung von Vorschriften internationaler Abkommen über Kriegführung, über den Schutz von Personen und Gütern sowie anderer anerkannter Gesetze und Gebräuche des Krieges unter Strafe. Art. 3 der Genfer Abkommen sieht vor, dass im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist und der auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht, jede der am Konflikt beteiligten Parteien gehalten ist, gewisse Bestimmungen anzuwenden; so sind unter anderem Angriffe auf Leib und Leben, grausame Behandlung und Folter gegen Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, zu unterbleiben. Die Schweiz ratifizierte die Genfer Konventionen am 31. März 1950, Algerien am 20. Juni 1960.

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