Beschleunigungsgebot im Jugendstrafverfahren

Im Urteil 6B_402/2022 vom 24. April 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der Körperverletzung eines damals 64 Jahre alten Rechtsanwalts durch einen 17-jährigen Beschuldigten. Zur Diskussion standen verschiedene strafrechtliche Themen, u.a. auch der Notwehrexzess. Das Bundesgericht bestätigte die Verletzung des Beschleunigungsgebots im kantonalen Verfahren und betonte auch, dass dem Beschleunigungsgebot im Jugendstrafverfahren eine erhöhte Bedeutung zukomme (E.4.4.3).

Sachverhalt

Am 8. September 2015 hat sich der damals 17-jährige A. in U. im Park V. auf eine Wiese gesetzt und auf seinem Mobiltelefon Videospiele gespielt. Gegen 20 Uhr hat er aus einer Entfernung von ca. 20 bis 25 Metern bemerkt, wie er vom damals 64 Jahre alten B.B. angestarrt und beobachtet wurde. Dieser hat sich A. angenähert und ist bald einmal in einer Baumgruppe verschwunden. A. hat sich hierdurch bedroht gefühlt und sich in die Nähe des Spielplatzes begeben. Dort hat er sich umgedreht und B.B. onanierend in der Mitte einer Baumgruppe entdeckt. A. hat sich dadurch belästigt gefühlt, weshalb er die Polizei über das Verhalten von B.B. informiert hat.

Der A. hat sich sodann auf eine Bank im eingezäunten Spielplatz gesetzt und dort auf das Eintreffen der Polizei gewartet. Nach einigen Minuten hat sich B.B. langsam dem Spielplatz genähert, ist schliesslich ungefähr einen Meter vor dem Zaun stehen geblieben und hat A. angestarrt. A. hat auf sein Mobiltelefon geschaut, weil er B.B. ignorieren wollte. Als er den Blick dann doch gehoben hat, hat er gesehen, wie B.B. mit den Fingern über der Hose seinen erigierten Penis gestreichelt hat, diesen dann ausgepackt und erneut zu onanieren begonnen hat. A. hat den Spielplatz verlassen und sich draussen vor dem Zaun in einem Abstand von ungefähr 70 cm vor B.B. hingestellt und diesen laut und deutlich gebeten, von ihm wegzugehen, er sei nicht homosexuell. Daraufhin hat er bei B.B. einen völlig veränderten Gesichtsausdruck festgestellt, welchen er mit Hass und Aggressivität interpretierte. B.B. setzte zu einer Packbewegung in Richtung der oberen Körperhälfte (Hals/Schulterbereich) von A. an. A. hat darauf mit mindestens zwei oder drei heftigen Faustschlägen gegen das Gesicht von B.B. reagiert. B.B. ist zu Boden gefallen und bewusstlos liegen geblieben. Auch A. ist hingefallen.

Aufgrund einer tiefen Bewusstlosigkeit am Tatort sowie einer lagebedingten Atemwegsverlegung durch die im Rachen zurückgesunkene Zunge und der bei ungeschützten Atemwegen in den Rachen und die Atemwege zurücklaufenden Blutung bei Mittelgesichtsbrüchen bestand für B.B. Lebensgefahr. Durch die Schläge hat B.B. ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, Brüche in der Augenhöhlenplatte rechts und der vorderen Kieferhöhlenwand links sowie einen mehrteiligen Bruch der seitlichen Kieferhöhlenwand links mit einer Blutansammlung in der linken Kieferhöhle erlitten. Ferner erlitt er multiple Rissquetschwunden am Kopf sowie einen Zahnschmelzabbruch.

B.B. wurde hospitalisiert und verweilte bis am 30. Juni 2016 in einer Rehaklinik. Er bleibt in seiner Funktionsfähigkeit im Alltag erheblich eingeschränkt. Insbesondere seine Aufmerksamkeit sowie seine Gedächtnisleistung sind deutlich gestört und sein Antrieb reduziert. Die Wiederaufnahme seiner angestammten Berufstätigkeit als Rechtsanwalt ist nicht realistisch.

Instanzenzug

Das Bezirksgericht Zürich, Jugendgericht, sprach A. am 27. November 2017 vom Vorwurf der schweren Körperverletzung frei und verwies die Zivilklagen von C.B. und B.B. auf den Zivilweg.

Auf Berufung von C.B. und B.B. hin verurteilte das Obergericht des Kantons Zürich A. am 16. Januar 2019 wegen schwerer Körperverletzung, begangen in einem Notwehrexzess, zu vier Monaten bedingtem Freiheitsentzug, unter Anrechnung von zwei Tagen Untersuchungshaft. Es verpflichtete ihn zur Bezahlung von Fr. 20’000.– Genugtuung und Fr. 23’423.80 Schadenersatz an B.B. Im Mehrbetrag wies es die entsprechenden Zivilforderungen ab. Ein Schadenersatzbegehren betreffend die Arbeitsunfähigkeit von B.B. verwies das Obergericht auf den Zivilweg, wobei es die A. treffende Haftungsquote auf 50 % festsetzte. Zudem verpflichtete es A. unter Festsetzung der genannten Haftungsquote dem Grundsatz nach, B.B. Schadenersatz zu leisten. Das Schadenersatzbegehren von C.B. verwies das Obergericht auf den Zivilweg und setzte die A treffende Haftungsquote auch diesbezüglich auf 50 % fest.

Das Bundesgericht hiess am 26. Mai 2020 die von C.B. und B.B. geführte Beschwerde gut, hob das Urteil des Obergerichts auf und wies die Sache zu neuer Entscheidung an dieses zurück. Die von A._ geführte Beschwerde erklärte es als gegenstandslos (Urteile 6B_589/2019, 6B_597/2019 und 6B_599/2019 vom 26. Mai 2020).

Am 2. Dezember 2021 bestätigte das Obergericht sein Urteil vom 16. Januar 2019. Es verurteilte A. wegen schwerer Körperverletzung, begangen in einem Notwehrexzess, zu vier Monaten Freiheitsentzug, unter Anrechnung der Untersuchungshaft von zwei Tagen. Den Vollzug der Freiheitsstrafe schob es unter Ansetzung einer Probezeit von sechs Monaten auf. Das Obergericht verpflichtete A. zur Bezahlung von Fr. 20’000.– Genugtuung und Fr. 23’423.80 Schadenersatz an B.B.. Im Mehrbetrag wies das Obergericht die entsprechenden Zivilforderungen ab. Das Schadenersatzbegehren betreffend die Arbeitsunfähigkeit von B.B. verwies das Obergericht auf den Zivilweg, wobei es die A. treffende Haftungsquote auf 50 % festsetzte. Zudem verpflichtete es A. unter Festsetzung der genannten Haftungsquote dem Grundsatz nach, B.B. für künftig aus dem eingeklagten Ereignis resultierenden Schaden Schadenersatz zu leisten und setzte die A. treffende Haftungsquote auf 50 % fest. Das Schadenersatzbegehren von C.B. verwies das Obergericht auf den Zivilweg und setzte die A. treffende Haftungsquote auch diesbezüglich auf 50 % fest.

Weiterzug ans Bundesgericht

Der A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, seine Verurteilung sei aufzuheben und er sei freizusprechen. Die Zivilklagen von C.B. und B.B. seien abzuweisen respektive auf den Weg des Zivilprozesses zu verweisen. Das Genugtuungsbegehren sei abzuweisen. Eventualiter sei er der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig zu sprechen und mit einer Busse von Fr. 300.– zu bestrafen. Die Zivilklagen von C.B. und B.B. seien auf den Weg des Zivilprozesses zu verweisen und die Haftungsquote sei auf diesem Weg festzulegen. Subeventuell sei die Haftungsquote auf 5 % festzulegen. Das Genugtuungsbegehren sei abzuweisen. Subeventualiter sei das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an dieses zurückzuweisen.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_402/2022 vom 24. April 2023

Rügen

Der Beschwerdeführer beanstandet vor Bundesgericht die vorinstanzliche Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung. Er rügt die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung als willkürlich und bringt vor, den subjektiven Tatbestand nicht erfüllt zu haben. (E.1.1). Das Bundesgericht sieht keine Verletzung von Bundesrecht diesbezüglich (E.1.5).

Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Vorinstanz habe zu Unrecht das Vorliegen einer rechtfertigenden Notwehr verneint und damit Art. 15 StGB verletzt. (E.2.2). Die vorinstanzliche Bejahung eines Notwehrexzesses verletzt kein Bundesrecht gemäss Bundesgericht (E.2.5).

Weitere Rügen werden ebenfalls vom Bundesgericht nicht angenommen (E.3, E.5, E.6)).

Verletzung des Beschleunigungsgebots im Jugendstrafverfahren

Der Beschwerdeführer macht vor Bundesgericht (erfolgreich) eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes, welche strafmindernd zu berücksichtigen sei, geltend (E.4.1).

Das Bundesgericht äussert sich hierzu im Urteil 6B_402/2022 vom 24. April 2023 wie folgt zum Beschleunigungsgebot und betont auch, dass im Jugendstrafrecht erhöhte Anforderungen zu stellen sind:

«Gemäss Art. 1 und Art. 3 Abs. 1 JStPO i.V.m. Art. 5 Abs. 1 StPO nehmen die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss. Das Beschleunigungsgebot (vgl. auch Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) gilt in sämtlichen Verfahrensstadien und verpflichtet die Strafbehörden, Verfahren voranzutreiben, um die beschuldigte Person nicht unnötig über die gegen sie erhobenen Vorwürfe im Ungewissen zu lassen. Ob die Pflicht zur beförderlichen Behandlung verletzt worden ist, entzieht sich starren Regeln und hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, die in ihrer Gesamtheit zu würdigen sind. Kriterien für die Angemessenheit der Verfahrensdauer sind etwa die Schwere des Tatvorwurfs, die Komplexität des Sachverhalts, die gebotenen Untersuchungshandlungen, die Schwierigkeit und Dringlichkeit der Sache, das Verhalten der Behörden und dasjenige der beschuldigten Person sowie die Zumutbarkeit für diese (BGE 143 IV 373 E. 1.3.1; Urteile 6B_1485/2022 vom 23. Februar 2023 E. 1.2.5; 6B_1133/2021 vom 1. Februar 2023 E. 4.2.1; je mit Hinweisen).  

Einer Verletzung des Beschleunigungsgebots kann namentlich mit einer Strafreduktion Rechnung getragen werden (BGE 143 IV 49 E. 1.8.2, 373 E. 1.4.1; Urteile 6B_1485/2022 vom 23. Februar 2023 E. 1.2.5; 6B_1133/2021 vom 1. Februar 2023 E. 4.2.1; je mit Hinweisen). Soweit das Verfahren aus Gründen der Arbeitslast und wegen faktischer und prozessualer Schwierigkeiten zu unumgänglichen Verfahrensunterbrüchen führt, ist dies für sich allein nicht zu beanstanden, solange der Stillstand nicht als stossend erscheint. Das Beschleunigungsgebot ist nur verletzt, wenn eine von der Strafbehörde zu verantwortende krasse Zeitlücke zu Tage tritt. Dafür genügt es nicht schon, dass diese oder jene Handlung etwas rascher hätte vorgenommen werden können (Urteile 6B_243/2022 vom 18. Januar 2023 E. 3.3.2; 6B_676/2022 vom 27. Dezember 2022 E. 2.9.2; je mit Hinweisen). 

Dem Beschleunigungsgebot kommt im Jugendstrafrecht besondere Bedeutung zu (BGE 143 IV 49 E. 1.7.2). Hinsichtlich der Verletzung des Beschleunigungsgebots sind an die Dauer des Strafverfahrens jedoch höhere Anforderungen zu stellen, wenn kurz vor der Volljährigkeit begangene schwere Straftaten zu beurteilen sind (BGE 143 IV 49 E. 1.8.2).» (E.4.4.2)

Das Bundesgericht äusserte sich zum Fall im Urteil 6B_402/2022 vom 24. April 2023 wie folgt:

«Sofern der Beschwerdeführer beanstandet, zwischen der Tat und der Anklageerhebung seien fast zwei Jahre vergangen, ist darauf hinzuweisen, dass angesichts der Komplexität und Schwere des Falles sowie des einzuholenden Gutachtens und Ergänzungsgutachten die Verfahrensdauer im zulässigen Rahmen liegt. Ebenfalls beanstandet der Beschwerdeführer die Dauer des Berufungsverfahrens. Diesbezüglich hat das Bundesgericht festgehalten, dass die Dauer von 15 Monaten zwischen Berufungserklärung und Berufungsverhandlung in einem Straffall geringerer Grössenordnung das Beschleunigungsgebot verletze (Urteil 6B_1345/2021 vom 5. Oktober 2022 E. 2.5). Weiter hat das Bundesgericht eine leichte Verletzung des Beschleunigungsgebots für die Dauer von zwei Jahren für ein Berufungsverfahren, das sich im Wesentlichen auf die Beurteilung eines einzelnen Schuldspruchs sowie die Bemessung der Strafe beschränkte, bejaht (Urteil 6B_942/2019 vom 2. Oktober 2020 E. 1.2.2). In einem anderen Fall erachtete es die Dauer des Berufungsverfahrens von 16 Monaten bis zum begründeten Urteil in Berücksichtigung der Komplexität des Verfahrens als mit dem Beschleunigungsgebot vereinbar (Urteil 6B_711/2011 vom 31. Januar 2012 E. 2.4). Der Beschwerdeführer beanstandet die Dauer von 16 Monaten zwischen der Urteilsfällung des Jugendgerichts bis zum Vorliegen des begründeten zweitinstanzlichen Urteils. Angesichts der dargelegten Rechtsprechung scheint diese Dauer unter Berücksichtigung der Schwere und Komplexität des Falles noch als gerechtfertigt. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots erkennt der Beschwerdeführer weiter in der Dauer des zweiten Berufungsverfahrens sowie der Dauer des Verfahrens von der Tat bis zum zweiten Berufungsurteil. Das Urteil des Bundesgerichts erging am 26. Mai 2020 und das zweite Urteil der Vorinstanz am 2. Dezember 2021. Im zweiten Berufungsverfahren war das Urteil in tatsächlicher Hinsicht um die Beweiswürdigung hinsichtlich des Verhaltens des Beschwerdegegners 2 unmittelbar vor der Tat zu ergänzen. Auch wenn vorliegend an die Dauer des Jugendstrafverfahrens höhere Anforderungen zu stellen sind, da eine kurz vor der Volljährigkeit begangene schwere Straftat zu beurteilen ist, erscheint die Dauer von 18 Monaten selbst unter Berücksichtigung des doppelten Schriftenwechsels und den mehrfach gestellten Fristerstreckungsgesuchen angesichts der vorzunehmenden Ergänzung als zu lange. Dies wirkt sich unweigerlich auch auf die Dauer des Verfahrens von der Tat am 8. September 2015 bis zum Vorliegen des zweiten Berufungsurteils am 2. Dezember 2021 von sechs Jahren und drei Monaten aus. Die Dauer des kantonalen Jugendstrafverfahrens ist als übermässig lang zu qualifizieren.  

Die festgestellte Verletzung des Beschleunigungsgebots wiegt insgesamt jedoch noch leicht, sodass sich keine Reduktion der Strafe rechtfertigt. Die festgestellte Verletzung ist jedoch im bundesgerichtlichen Dispositiv festzustellen. Damit, und in Verbindung mit einer für den Beschwerdeführer vorteilhaften Kostenregelung, wird ihm gemäss Rechtsprechung eine hinreichende Wiedergutmachung verschafft (vgl. BGE 147 I 259 E. 1.3.3; 138 II 513 E. 6.5; 136 I 274 E. 2.3; Urteile 6B_1399/2021 vom 7. Dezember 2022 E. 4.3; 6B_1147/2020 vom 26. April 2021 E. 2.4; je mit Hinweisen).» (E.4.4.3).

Die Beschwerde wird durch das Bundesgericht im Urteil 6B_402/2022 vom 24. April 2023 teilweise gutgeheissen. Es wird festgestellt, dass das Beschleunigungsgebot im kantonalen Verfahren verletzt worden ist. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

 

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