Berufungsgericht muss über Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung befinden

Im Urteil 6B_149/2024 vom 14. Mai 2024 aus dem Kanton Schwyz (zur amtl. Publ. vorgesehen) befasste sich das Bundesgericht mit der Zuständigkeit des Berufungsgerichts über die Rechtzeitigkeit einer Berufungsanmeldung zu entscheiden. Es bemerkte u.a.:  «Indes ist das Kantonsgericht Schwyz erneut darauf hinzuweisen, dass nicht das erstinstanzliche Gericht, sondern das Berufungsgericht über die Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung zu entscheiden hat (vgl. Art. 403 Abs. 1 lit. a StPO; Urteil 6B_1336/2019 vom 6. Februar 2020 E. 4). Bei der Beurteilung der Fristwahrung können sich durchaus heikle Sachverhalts- und Rechtsfragen stellen (vgl. etwa Urteil 6B_826/2018 vom 7. November 2018 E. 3). Der Gesetzgeber erklärte in Art. 403 Abs. 1 lit. a StPO für den Entscheid über die Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung bewusst nicht das vorbefasste erstinstanzliche Gericht, dessen Entscheid Gegenstand des Rechtsmittels bildet, sondern das Berufungsgericht für zuständig. Das erstinstanzliche Gericht hat die Zulässigkeit der Berufung sowie die Rechtmässigkeit der Berufungsanmeldung vor der Übermittlung an das Berufungsgericht nicht zu prüfen. Es kann sich (muss aber nicht) in einem Begleitschreiben zur Gültigkeit der Berufung äussern (Urteil 6B_1336/2019 vom 6. Februar 2020 E. 4; JOSITSCH/SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2023, N. 5 zu Art. 399 StPO).» (E.5). Das Bundesgericht äusserte sich weiter zur sog. Evidenztheorie, wonach fehlerhafte Entscheide nichtig sind, wenn sie mit einem tiefgreifenden und wesentlichen Mangel behaftet sind, wenn dieser schwerwiegende Mangel offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird (E.6).

Sachverhalt

Das Bezirksgericht March verurteilte den Beschwerdeführer am 25. Oktober 2023 wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit (Art. 91a Abs. 1 SVG), vorsätzlichen pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall (Art. 92 Abs. 1 SVG) und fahrlässiger Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 1 SVG) zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu Fr. 100.– sowie einer Busse von Fr. 2’500.–. Auf den Widerruf der bedingt ausgesprochenen Vorstrafe vom 28. März 2019 verzichtete es und verlängerte stattdessen die Probezeit um ein Jahr. Der Beschwerdeführer meldete am 10. November 2023 (Datum Poststempel) Berufung gegen das ihm mutmasslich am 30. Oktober 2023 im Dispositiv eröffnete Urteil vom 25. Oktober 2023 an.

Das Bezirksgericht March überwies die Berufungsanmeldung zusammen mit den erstinstanzlichen Akten am 20. November 2023 an das Kantonsgericht Schwyz zum Entscheid über die Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung mit dem Antrag, auf das Rechtsmittel sei infolge Verspätung nicht einzutreten (Akten Bezirksgericht, Urk. 22). Der Präsident des Kantonsgerichts Schwyz wies die Angelegenheit mit Schreiben vom 22. November 2023 an das Bezirksgericht March zurück, dies mit der Begründung, die Berufungsinstanz habe erst nach Überweisung der Akten samt Urteilsbegründung (Art. 399 Abs. 2 StPO) über die Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung zu befinden; es sei an der Erstinstanz, die Rechtzeitigkeit des Begründungsbegehrens nach Art. 82 Abs. 2 StPO zu prüfen, die allfällige Nichtwahrung der zehntägigen Frist für die Berufungsanmeldung in einer Verfügung festzustellen und bei Nichtwahrung der Frist die Begründungsausfertigung zu verweigern, wogegen die Beschwerde gemäss Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO gegeben sei; andernfalls habe es die Begründung auszufertigen, wobei eine verspätete Berufungsanmeldung von den anderen Parteien später im Rahmen von Art. 400 Abs. 3 lit. a StPO eingewandt werden könne (Akten Bezirksgericht, Urk. 24).

In der Folge trat das Bezirksgericht March mit Verfügung vom 24. November 2023 auf die Berufungsanmeldung des Beschwerdeführers vom 10. November 2023 nicht ein (Akten Bezirksgericht, Urk. 25). Dagegen gelangte der Beschwerdeführer mit Beschwerde vom 6. Dezember 2023 an das Kantonsgericht Schwyz. Mit Verfügung vom 7. Dezember 2023 forderte das Kantonsgericht Schwyz den Beschwerdeführer auf, seine Eingabe vom 6. Dezember 2023 innert zehn Tagen eigenhändig zu unterzeichnen. Die mittels Einschreiben versandte Verfügung wurde von der Post als nicht abgeholt an das Kantonsgericht Schwyz retourniert, worauf dieses dem Beschwerdeführer die Verfügung vom 7. Dezember 2023 am 21. Dezember 2023 zusätzlich per A-Post Plus zustellte. Da der Beschwerdeführer der Aufforderung zur Unterzeichnung seiner Beschwerde nicht nachkam, trat das Kantonsgericht Schwyz mit Verfügung vom 29. Dezember 2023 auf dessen Beschwerde nicht ein, wobei es aufgrund des geringen Aufwands ausnahmsweise auf eine Kostenerhebung verzichtete.

Gegen die Verfügung vom 29. Dezember 2023 erhob der Beschwerdeführer sinngemäss Beschwerde beim Bundesgericht.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_149/2024 vom 14. Mai 2024

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 6B_149/2024 vom 14. Mai 2024 wie folgt:

«Eine Beschwerde in Strafsachen ist innert 30 Tagen nach der Eröffnung der vollständigen Ausfertigung des angefochtenen Entscheids beim Bundesgericht einzureichen (Art. 100 Abs. 1 BGG). 

Der Beschwerdeführer macht geltend, der angefochtene Entscheid sei ihm am 17. Januar 2024 zugegangen (act. 1). Die Vorinstanz argumentiert demgegenüber, der Entscheid sei am 29. Dezember 2023 per Einschreiben versandt worden. Er gelte mit Ablauf der postalischen Abholfrist am 10. Januar 2024 als zugestellt (act. 6). Letzterem ist grundsätzlich beizupflichten. Eine eingeschriebene Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als zugestellt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste. Der nach Retournierung der nicht abgeholten Sendung am 17. Januar 2024 erfolgte Versand des Entscheids per A-Post Plus an die Wohnadresse des Beschwerdeführers hat demnach keinen Einfluss auf den Fristenlauf. Allerdings ist die gültige Zustellung der eingeschriebenen Postsendung vom 29. Dezember 2023 vorliegend nicht restlos nachvollziehbar, da die Sendung gemäss der von der Vorinstanz übermittelten postalischen Sendungsverfolgung direkt an ein Postfach im Kanton Schwyz zugestellt wurde, ohne dass es hierfür eine Erklärung gibt. Ein erfolgloser Zustellungsversuch an der Wohnadresse des Beschwerdeführers ist nicht dokumentiert. 

Ob die Beschwerde fristgerecht eingereicht wurde, kann letztlich jedoch offenbleiben, da auf die Beschwerde wie nachfolgend dargelegt auch aus anderen Gründen nicht eingetreten werden kann.» (E.2).

«Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zu begründen (Art. 42 Abs. 1 BGG). In der Begründung ist in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG). Die beschwerdeführende Partei hat mit ihrer Kritik bei der als rechtsfehlerhaft erachteten Erwägung der Vorinstanz anzusetzen (BGE 146 IV 297 E. 1.2). Die Begründung muss sachbezogen sein und erkennen lassen, dass und weshalb nach Auffassung der beschwerdeführenden Partei Recht im Sinne von Art. 95 BGG verletzt ist (BGE 142 I 99 E. 1.7.1; 140 III 86 E. 2; 139 I 306 E. 1.2). Auf ungenügend begründete Rügen am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 114 E. 2.1, 88 E. 1.3.1).» (E.3.).

«Anfechtungsobjekt des bundesgerichtlichen Verfahrens ist der kantonal letztinstanzliche Entscheid (Art. 80 Abs. 1 BGG), d.h. die Verfügung der Beschwerdeinstanz des Kantonsgerichts Schwyz vom 29. Dezember 2023. Der Beschwerdeführer äussert sich in seiner Eingabe an das Bundesgericht weder zur Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung vom 10. November 2023 (Datum Poststempel) noch zur Gültigkeit seiner Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts March vom 24. November 2023. Er rügt lediglich, die tatsächlichen Umstände im Zusammenhang mit dem behaupteten Verstoss seien nicht korrekt widergespiegelt worden. Er bitte um eine sorgfältige Überprüfung seines Falls und eine Neubewertung der verhängten Strafe. Darauf ist nicht einzutreten, da sich der Beschwerdeführer damit gegen seine Verurteilung wendet, welche nicht Gegenstand der angefochtenen Verfügung bildet. Das Kantonsgericht Schwyz befasste sich darin lediglich mit der Gültigkeit der Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Verfügung des Bezirksgerichts March vom 24. November 2023, wobei es auf die Beschwerde mangels einer gültigen Unterschrift nicht eintrat. Mit dieser Frage setzt sich der Beschwerdeführer nicht ansatzweise auseinander.» (E.4).

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 6B_149/2024 vom 14. Mai 2024 weiter wie folgt (Schlüsselstellen des Urteils):

«Indes ist das Kantonsgericht Schwyz erneut darauf hinzuweisen, dass nicht das erstinstanzliche Gericht, sondern das Berufungsgericht über die Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung zu entscheiden hat (vgl. Art. 403 Abs. 1 lit. a StPO; Urteil 6B_1336/2019 vom 6. Februar 2020 E. 4). Bei der Beurteilung der Fristwahrung können sich durchaus heikle Sachverhalts- und Rechtsfragen stellen (vgl. etwa Urteil 6B_826/2018 vom 7. November 2018 E. 3). Der Gesetzgeber erklärte in Art. 403 Abs. 1 lit. a StPO für den Entscheid über die Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung bewusst nicht das vorbefasste erstinstanzliche Gericht, dessen Entscheid Gegenstand des Rechtsmittels bildet, sondern das Berufungsgericht für zuständig. Das erstinstanzliche Gericht hat die Zulässigkeit der Berufung sowie die Rechtmässigkeit der Berufungsanmeldung vor der Übermittlung an das Berufungsgericht nicht zu prüfen. Es kann sich (muss aber nicht) in einem Begleitschreiben zur Gültigkeit der Berufung äussern (Urteil 6B_1336/2019 vom 6. Februar 2020 E. 4; JOSITSCH/SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2023, N. 5 zu Art. 399 StPO). Dies muss auch dann gelten, wenn es vom Eingang einer Berufungsanmeldung abhängt, ob das erstinstanzliche Urteil nachträglich schriftlich zu begründen ist (vgl. Art. 82 Abs. 2 lit. b StPO). Gemäss Art. 399 Abs. 2 StPO übermittelt das erstinstanzliche Gericht die Berufungsanmeldung nach Ausfertigung des begründeten Urteils zusammen mit den Akten dem Berufungsgericht. Dies gilt dann uneingeschränkt, wenn das erstinstanzliche Urteil zwingend schriftlich zu begründen ist, weil die Voraussetzungen von Art. 82 Abs. 1 StPO für den Verzicht auf eine schriftliche Begründung nicht erfüllt sind. Gelangt Art. 82 Abs. 1 StPO zur Anwendung, ist den Parteien gemäss Art. 82 Abs. 2 lit. b StPO nachträglich ein begründetes Urteil zuzustellen, wenn eine Partei ein Rechtsmittel ergreift, was bei einer Berufungsanmeldung nach Art. 399 Abs. 1 StPO der Fall ist. In solchen Fällen muss es dem erstinstanzlichen Gericht aus Gründen der Prozessökonomie und zwecks Vermeidung einer Umgehung von Art. 82 Abs. 2 lit. a StPO – entgegen der Bestimmung von Art. 399 Abs. 2 StPO – möglich sein, die Berufungsanmeldung zusammen mit einem Antrag auf Nichteintreten ohne eine schriftliche Begründung des erstinstanzlichen Urteils an die zuständige Berufungsinstanz weiterzuleiten, wenn es der Auffassung ist, die Berufungsanmeldung sei verspätet erfolgt und eine schriftliche Begründung des erstinstanzlichen Urteils gemäss Art. 82 Abs. 1 und 2 lit. b StPO sei nicht notwendig. Erachtet die Berufungsinstanz die Berufungsanmeldung als zulässig, ist das erstinstanzliche Urteil nachträglich schriftlich zu begründen (vgl. MARLÈNE KISTLER VIANIN, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 8a zu Art. 399 StPO; JO PITTELOUD, Code de procédure pénale suisse, 2012, N. 1177 S. 792; ähnlich: JOSITSCH/SCHMID, a.a.O., N. 5a zu Art. 399 StPO betreffend den Berufungsrückzug). Dieser von der Lehre vertretenen Auffassung ist beizupflichten. Entgegen dem Schreiben des Präsidenten des Kantonsgerichts Schwyz vom 22. November 2023 kann das erstinstanzliche Gericht folglich keine verbindlichen Feststellungen zur Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung treffen. Auch darf es vor dem Entscheid der Berufungsinstanz über die Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung die schriftliche Ausfertigung der Urteilsbegründung nicht definitiv mit der Begründung verweigern, die Berufungsanmeldung sei verspätet erfolgt, zumal es damit – der falschen Auslegung von Art. 399 Abs. 2 StPO im Schreiben vom 22. November 2023 folgend – mangels einer schriftlichen Urteilsbegründung gar nie zu einer Weiterleitung der Berufungsanmeldung an die Berufungsinstanz käme.» (E.5).

«Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind fehlerhafte Entscheide im Sinne der Evidenztheorie nichtig, wenn sie mit einem tiefgreifenden und wesentlichen Mangel behaftet sind, wenn dieser schwerwiegende Mangel offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Inhaltliche Mängel einer Entscheidung führen nur ausnahmsweise zur Nichtigkeit. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in Betracht. Die Nichtigkeit eines Entscheides ist jederzeit und von sämtlichen rechtsanwendenden Behörden von Amtes wegen zu beachten (BGE 148 IV 445 E. 1.4.2; 147 IV 93 E. 1.4.4; 145 IV 197 E. 1.3.2; je mit Hinweisen). Im Bereich des Strafrechts kommt der Rechtssicherheit eine besondere Bedeutung zu, weshalb die Nichtigkeit von in Rechtskraft erwachsenen Urteilen nicht ohne Weiteres angenommen werden darf (BGE 148 IV 445 E. 1.4.2; 145 IV 197 E. 1.3.2). 

Über die Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung hat wie dargelegt nicht das erstinstanzliche Gericht, sondern die Berufungsinstanz zu befinden. Das Bezirksgericht March äusserte sich in der Verfügung vom 24. November 2023 nicht nur zur Notwendigkeit einer schriftlichen Begründung des erstinstanzlichen Urteils, sondern es hielt in Dispositiv-Ziff. 1 ausdrücklich fest: „Auf die Berufungsmeldung vom 10.11.2023 wird nicht eingetreten“. Die Unzuständigkeit des Bezirksgerichts March zum Entscheid über die Zulässigkeit der Berufungsanmeldung ist offensichtlich, weshalb von einem nichtigen Entscheid auszugehen ist. Die Rechtssicherheit wird dadurch in keiner Weise tangiert, nachdem der Beschwerdeführer gegen die Verfügung vom 24. November 2023 – wenn auch allenfalls verspätet – den Rechtsmittelweg ergriffen hat. Nach den zuvor dargelegten Grundsätzen (vgl. oben E. 5) ist auch vorliegend zu verfahren. Das Bezirksgericht March hat die Berufungsanmeldung des Beschwerdeführers daher zusammen mit den Akten erneut zur Prüfung der Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung an das Berufungsgericht zu überweisen. Gelangt dieses zur Auffassung, die Berufungsanmeldung sei gültig, ist das erstinstanzliche Urteil nachträglich schriftlich zu begründen (vgl. Art. 82 Abs. 2 lit. b StPO).» (E.6).

Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde nicht ein (E.7).

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