Berücksichtigung von Verweigerung der Mitwirkung und Aussage bei Beweiswürdigung?

Im Urteil 6B_1205/2022, 6B_1207/2022 vom 22. März 2023 aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit der Würdigung der Aussageverweigerung von zwei Beschuldigten. Es äusserte sich dabei wie folgt: «Nach der Rechtsprechung ist es mit der Unschuldsvermutung unter gewissen Umständen vereinbar, das Aussageverhalten der beschuldigten Person in die Beweiswürdigung miteinzubeziehen. Dies ist der Fall, wenn sich die beschuldigte Person weigert, zu ihrer Entlastung erforderliche Angaben zu machen, indem sie es unterlässt, entlastende Behauptungen näher zu substanziieren, obschon eine Erklärung angesichts der belastenden Beweiselemente vernünftigerweise erwartet werden darf. […] Das Schweigen der beschuldigten Person darf in Situationen, die nach einer Erklärung rufen, bei der Gewichtung belastender Elemente mitberücksichtigt werden, es sei denn, die beschuldigte Person berufe sich zu Recht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht […]. Die fehlende Mitwirkung der beschuldigten Person im Strafverfahren darf demnach nur unter besonderen Umständen in die Beweiswürdigung miteinfliessen. Die zitierte Rechtsprechung führt nicht zu einer Beweislastumkehr, sondern lediglich dazu, dass auf die belastenden Beweise abgestellt werden darf.» (E.2.4.1). Diese Ausführungen sind sehr kritisch zu betrachten.

Sachverhalt

Personen A. und B. wird vorgeworfen, sie hätten am 1. Oktober 2020 um ca. 2:20 Uhr ein Baustellenareal betreten, obwohl sie aufgrund von Absperrungen hätten wissen müssen, dass ihnen der Zutritt verboten war.

Am 31. August 2021 sprach sie das Regionalgericht Bern-Mittelland frei.

Instanzenzug

Die dagegen gerichtete Berufung der Generalstaatsanwaltschaft hiess das Obergericht des Kantons Bern am 1. September 2022 gut. Es verurteilte A. und B. wegen Hausfriedensbruchs je zu einer bedingten Geldstrafe von 16 Tagessätzen zu Fr. 30.– und einer Verbindungsbusse von Fr. 120.–.

Weiterzug ans Bundesgericht

Die Personen A. und B. beantragen mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und sie seien freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. Die Beschwerdeführer zogen ihre Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung zurück.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1205/2022, 6B_1207/2022 vom 22. März 2023

Wir schauen uns hier beim Urteil den Aspekt der Beweiswürdigung und die Ausführungen des Bundesgerichts hierzu an.

Das Bundesgericht beginnt im Urteil 6B_1205/2022, 6B_1207/2022 vom 22. März 2023 mit Ausführungen zum Indizienbeweis wie folgt:

«Liegen keine direkten Beweise vor, ist nach der Rechtsprechung auch ein indirekter Beweis zulässig. Beim Indizienbeweis wird aus bestimmten Tatsachen, die nicht unmittelbar rechtserheblich, aber bewiesen sind (Indizien), auf die zu beweisende, unmittelbar rechtserhebliche Tatsache geschlossen. Eine Mehrzahl von Indizien, welche für sich allein betrachtet nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Tatsache oder Täterschaft hindeuten und insofern Zweifel offenlassen, können in ihrer Gesamtheit ein Bild erzeugen, das den Schluss auf den vollen rechtsgenügenden Beweis von Tat oder Täter erlaubt (Urteile 6B_45/2020 vom 14. März 2022 E. 2.3.3; 6B_1302/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2.3, nicht publ. in: BGE 147 IV 176; 6B_902/2019 vom 8. Januar 2020 E. 2.2.1; 6B_811/2019 vom 15. November 2019 E. 1.3; je mit Hinweisen).» (E.2.1.3)

Zur Kognition des Bundesgerichts bei der Beweiswürdigung führt es im Urteil 6B_1205/2022, 6B_1207/2022 vom 22. März 2023 aus:

«Würdigt das Gericht einzelne belastende Indizien willkürlich oder lässt es entlastende Umstände willkürlich ausser Acht, führt dies nicht zwingend zur Aufhebung des angefochtenen Urteils durch das Bundesgericht. Die Beschwerde ist nur gutzuheissen, wenn der Entscheid auch bei objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich ist. Die beschwerdeführende Partei, die vor Bundesgericht eine willkürliche Beweiswürdigung rügt, darf sich daher nicht darauf beschränken aufzuzeigen, wie einzelne Indizien willkürfrei zu würdigen gewesen wären. Sie muss sich vielmehr mit der gesamten Beweislage befassen und darlegen, inwiefern aus ihrer Sicht auch der aus der Gesamtheit der verschiedenen Indizien gezogene Schluss geradezu willkürlich ist (Urteile 6B_45/2020 vom 14. März 2022 E. 2.3.4; 6B_1031/2019 vom 1. September 2020 E. 1.2.2, nicht publ. in: BGE 146 IV 311; 6B_913/2019 vom 7. Februar 2020 E. 5.2.2; 6B_1053/2018 vom 26. Februar 2019 E. 1.2; je mit Hinweisen).» (E.2.1.2).

Zur Aussageverweigerung der beiden Beschwerdeführer sowie zu den Beobachtungen eines Zeugen äussert sich das Bundesgericht im Urteil 6B_1205/2022, 6B_1207/2022 vom 22. März 2023 wie folgt:

«Die Erstinstanz erwog, die Beschwerdeführer hätten die Aussage im Wesentlichen verweigert und sich an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung auf Nichtwissen, die Privatsphäre und Erinnerungslücken berufen. Fragen dazu, was sie spätnachts in der Umgebung des Bahnhofs bei den Baustellen gemacht hätten, seien von beiden nicht beantwortet worden. Damit hätten sie keine glaubhaften und entlastenden Aussagen gemacht. Der Zeuge habe das Verhalten der Beschwerdeführer in der Umgebung detailliert beschrieben und ihre Aufenthaltsorte chronologisch nachgezeichnet. Er habe Unsicherheiten eingestanden und die Beschwerdeführer nicht übermässig belastet. So habe er angegeben, er habe lediglich Reflexionen des Lichtkegels einer Stirnlampe auf dem Baustellenareal gesehen, nicht hingegen die Beschwerdeführer selbst. Seine Beschreibung der Ausrüstung und der Fahrräder der Beschwerdeführer stimmten mit den Feststellungen der Polizei überein. Damit seien seine Aussagen sehr glaubhaft. Die Erstinstanz folgerte, dass die Beschwerdeführer ohne erkennbaren Zweck den Baustellen ein Augenmerk gewidmet hätten. Allerdings hätten weder die Polizei noch der Zeuge sie gesehen, als sie die Baustelle betraten, darauf verweilten und wieder verliessen. Dessen Aussage, wonach für ihn anhand der Reflexionen des Lichtkegels am Material der Baustelle klar gewesen sei, dass sich Personen auf der Baustelle befunden hätten, stelle einen indirekten Rückschluss dar. Es sei möglich, dass der Zeuge sich bei diesem Rückschluss getäuscht habe.» (E.2.2).

Die Beschwerdeführer werfen der Vorinstanz vor Bundesgericht weiter vor, sie habe ihnen ihre Aussageverweigerung zu Unrecht angelastet.  (E.2.4)

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 6B_1205/2022, 6B_1207/2022 vom 22. März 2023 zu diesem zentralen Punkt zunächst allgemein wie folgt:

«Nach der Rechtsprechung ist es mit der Unschuldsvermutung unter gewissen Umständen vereinbar, das Aussageverhalten der beschuldigten Person in die Beweiswürdigung miteinzubeziehen. Dies ist der Fall, wenn sich die beschuldigte Person weigert, zu ihrer Entlastung erforderliche Angaben zu machen, indem sie es unterlässt, entlastende Behauptungen näher zu substanziieren, obschon eine Erklärung angesichts der belastenden Beweiselemente vernünftigerweise erwartet werden darf (Urteile 6B_1018/2021 vom 24. August 2022 E. 1.3.1; 6B_1202/2021 vom 11. Februar 2022 E. 1.8.2; 6B_582/2021 vom 1. September 2021 E. 4.3.1; 6B_299/2020 vom 13. November 2020 E. 2.3.3; 6B_453/2011 vom 20. Dezember 2011 E. 1.6, nicht publ. in: BGE 138 IV 47). Das Schweigen der beschuldigten Person darf in Situationen, die nach einer Erklärung rufen, bei der Gewichtung belastender Elemente mitberücksichtigt werden, es sei denn, die beschuldigte Person berufe sich zu Recht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht (Urteile 6B_1018/2021 vom 24. August 2022 E. 1.3.1; 6B_1202/2021 vom 11. Februar 2022 E. 1.8.2; 6B_299/2020 vom 13. November 2020 E. 2.3.3; je mit Hinweisen). Die fehlende Mitwirkung der beschuldigten Person im Strafverfahren darf demnach nur unter besonderen Umständen in die Beweiswürdigung miteinfliessen. Die zitierte Rechtsprechung führt nicht zu einer Beweislastumkehr, sondern lediglich dazu, dass auf die belastenden Beweise abgestellt werden darf (Urteil 6B_1302/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.4.4, nicht publ. in: BGE 147 IV 176).» (E.2.4.1).

Zum vorliegenden Fall äussert sich das Bundesgericht im Urteil 6B_1205/2022, 6B_1207/2022 vom 22. März 2023 schliesslich so:

«Eine solche Konstellation ist vorliegend gegeben. Die Vorinstanz durfte berücksichtigen, dass sich die Beschwerdeführer weigerten, zu ihrer Entlastung erforderliche Angaben zu machen, obschon eine Erklärung angesichts der belastenden Beweiselemente vernünftigerweise erwartet werden durfte. Sie hält fest, dass die Beschwerdeführer sich bei der Polizeikontrolle auf ihr Aussageverweigerungsrecht berufen hätten. Auf die Frage, was sie in der Gegend gemacht hätten, seien sie ca. 5 Sekunden lang stumm geblieben und hätten dann erwidert, dass sie keine Auskunft geben müssten. Auf die Vorladung zur polizeilichen Einvernahme hätten sie mit identischen Postsendungen reagiert, in denen sie darauf aufmerksam machten, dass sie jegliche Aussage und Mitwirkung verweigern würden. Bei der Befragung durch die Staatsanwaltschaft hätten sie keine Fragen beantwortet, nicht einmal, weshalb sie Einsprache gegen die Strafbefehle erhoben hätten. Auch bei der Befragung durch die Erstinstanz hätten sie keine Angaben zur Sache gemacht. Auf die Frage, was sie in der Tatnacht getan hätten, antworteten beide, sie könnten sich nicht mehr erinnern.  

Die Vorinstanz erwägt, dass die Beschwerdeführer ihren nächtlichen Aufenthalt in der Nähe der Baustelle nicht erklärten, obwohl sie spätestens an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung Kenntnis von den belastenden Aussagen des Zeugen hatten. Die Verteidigung brachte im Berufungsverfahren eine Vielzahl an möglichen Erklärungen für das beobachtete Verhalten der Beschwerdeführer vor. Für die Vorinstanz ist keine dieser Versionen nachvollziehbar. Sie hält fest, es sei nicht einzusehen, was um 2:00 Uhr „nach vorgängigem Inspizieren beider Baustellen, ausgerüstet mit dunklen Mützen und einer Stirnlampe in der beleuchteten U. strasse hätte bezweckt werden sollen“. Die Vorinstanz führt aus, dass aufgrund dieses Verhaltens und der Aussagen des Zeugen eine Erklärung verlangt werden darf. In Ermangelung einer einleuchtenden Erklärung stellt die Vorinstanz im Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf die belastenden Indizien ab.» (E.2.4.2).

Die Beschwerde wurde in der Folge abgewiesen.

Bemerkungen zum Urteil 6B_1205/2022, 6B_1207/2022 vom 22. März 2023

Die Ausführungen des Bundesgerichts in diesem Urteil sind heikel. Die Möglichkeit, die Mitwirkung und/oder die Aussagen in einem Verfahren zu verweigern gehört zu den Grundprinzipien des Strafprozesses. Die Ausführungen des Bundesgerichts müssen mithin restriktiv interpretiert bzw. eingeschränkt werden, auf den letzten Teil des letzten Satzes von E.2.4.1: «Die fehlende Mitwirkung der beschuldigten Person im Strafverfahren darf demnach nur unter besonderen Umständen in die Beweiswürdigung miteinfliessen. Die zitierte Rechtsprechung führt nicht zu einer Beweislastumkehr, sondern lediglich dazu, dass auf die belastenden Beweise abgestellt werden darf.»

Die Verweigerung der Mitwirkung im Verfahren kann nur dazu führen, dass auf andere Beweise abgestellt werden darf bzw. muss. Weitere Konsequenzen darf es nicht gegeben. Die praktische Gefahr ist natürlich gross, dass die Verweigerung der Mitwirkung und/oder der Aussage dennoch indirekte bzw. «versteckt» bei der Beweiswürdigung gegen einen Beschuldigten angewendet wird. Dem ist durch die Verteidigung, allenfalls auf dem Rechtsmittelweg, entgegen zu wirken.

 

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