Berücksichtigung von Strafakten von aus dem Strafregister entfernten Verurteilungen in einem laufenden Verfahren  

Im Leiturteil des Bundesgerichts 7B_215/2023 vom 30. November 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) geht es um den Beizug von Strafakten, deren Fälle im Strafregister nicht mehr erscheinen und deren Sachverhalte über 30 Jahre zurückliegen, in einem aktuell hängigen Strafverfahren (es ging um ein Sachverständigengutachten). Das Bundesgericht erlaubt diesen Beizug, insbesondere aus dem folgenden Grund: Am 23. Januar 2023 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2016 über das automatisierte Strafregister VOSTRA (Strafregistergesetz, StReG) in Kraft getreten. Die Fristen für die Löschung von Daten aus dem Strafregister wurden insgesamt verlängert. Mit diesem Gesetz wurde auch das Verbot der Verwendung von gelöschten Daten aufgehoben. Gemäss der Botschaft war ein solches Verbot nicht gerechtfertigt, da eine einheitliche und kohärente Anwendung des Verbots aufgrund der von der Rechtsprechung festgelegten Ausnahmen, insbesondere für medizinische Sachverständige, völlig unmöglich war; sofern kein Dilemma entsteht, sollte dies im Wesentlichen auch für den Richter gelten, der auf der Grundlage eines Gutachtens entscheiden muss, das eine ungünstige Prognose aufstellt, die weitgehend auf einer früheren Verurteilung beruht, die aus dem Strafregister entfernt wurde.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_215/2023 vom 30. November 2023

Der Beschwerdeführer wirft vor Bundesgericht der Vorinstanz vor, insbesondere unter Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips bestätigt zu haben, dass Akten aus den abgeschlossenen Verfahren P_90 und P_91, die in seinem Strafregister nicht mehr erwähnt werden, in die Strafakte des hängigen Falles P/23643/2022 aufgenommen wurden (E.2.1).

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 7B_215/2023 vom 30. November 2023 zunächst zur generell-abstrakten Rechtslage wie folgt:

«Gemäss Art. 369 aStGB – in seiner bis zum 22. Januar 2023 geltenden Fassung (AS 2022 600; BBl 2014 5525) – wurden Einträge im Strafregister nach einer bestimmten Zeit gelöscht. Nach Art. 369 Abs. 7 aStGB durfte der Eintrag nach seiner Löschung nicht mehr rekonstruiert werden und das gelöschte Urteil konnte der betroffenen Person nicht mehr entgegengehalten werden. Dies bedeutete, dass es keine rechtlichen Konsequenzen mehr haben konnte, insbesondere nicht für die Strafzumessung oder die Erstellung einer Prognose, mit anderen Worten, der Täter war vollständig rehabilitiert (BGE 135 IV 87 E. 2.3 und 2.4; Urteile 6B_1358/2021 vom 21. Juni 2023 E. 3.3.5; 6B_631/2021 vom 7. Februar 2022 E. 3.1.1).Diese Nutzungsbeschränkung war gerechtfertigt, da aufgrund der grosszügigen Löschungsfristen (vgl. insbesondere Art. 369 Abs. 1 aPCA) die Möglichkeit bestand, dass die Löschung der Daten in einem bestimmten Zeitraum erfolgen konnte. 1 aStGB) die fraglichen Tatsachen mehrere Jahrzehnte zurücklagen; nach Ablauf solcher Fristen überwogen die Interessen der betroffenen Person an der Rehabilitation und Resozialisierung insbesondere die öffentlichen Interessen an der Strafverfolgung (BGE 136 IV 1 E. 2.6.3; 135 IV 87 E. 2.4; Urteil 6B_1358/2021 vom 21. Juni 2023 E. 3.3.5). Nach der Rechtsprechung zu dieser Bestimmung konnten medizinische Sachverständige im Gegensatz zu den Strafbehörden jedoch Hinweise aus den Akten gelöschter Verurteilungen und insbesondere aus alten Gutachten verwenden. Dabei musste zwischen der tatsächlichen (medizinischen) Prognose und der gesetzlichen (gerichtlichen) Prognose unterschieden werden.Um eine Umgehung des gerichtlichen Verwertungsverbots nach Art. 369 Abs. 7 aStGB zu verhindern, musste aus dem Gutachten klar hervorgehen, inwieweit die alten Straftaten mit den neuen, zu beurteilenden Straftaten in Zusammenhang standen (Konnexität) und wie sich diese weit zurückliegenden Sachverhalte noch auf die im Gutachten enthaltene medizinische Realprognose auswirkten (Relevanz).Auf diese Weise konnte für die Gerichtsprognose sichergestellt werden, dass allfällige ungünstige Prognosen nur im Umfang von eingetragenen Verurteilungen berücksichtigt werden (BGE 135 IV 87 E. 2.5; Urteile 6B_154/2021 vom 17. November 2021 E. 1.5.1; 6B_1339/2016 vom 23. März 2017 E. 1.1. 3; vgl. auch die Auffassung zur Legalprognose bei einer Verwahrung im Sinne von Art. 64 Abs. 1 StGB, die a priori weiter gefasst ist, BGE 148 IV 1 E. 3.6. 1; Urteile 6B_1294/2021 vom 10. Januar 2022 E. 1.6.6; 1B_589/2021 vom 19. November 2021 E. 5.3 und 5.4; 6B_1076/2021 vom 28. Oktober 2021 E. 2.5.4; 6B_281/2017 vom 16. Oktober 2017 E. 2.4.1 und die zitierten Urteile). (E.2.2.1).»

«Am 23. Januar 2023 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2016 über das automatisierte Strafregister VOSTRA (Strafregistergesetz, StReG) in Kraft getreten. Die Fristen für die Löschung von Daten aus dem Strafregister wurden insgesamt verlängert (LUDOVIC TIRELLI, in Commentaire romand, Code pénal II, 2017, Nr. 3 (3) ad Vorbemerkungen zu Art. 365 und Art. 365). 365 bis 371 StGB); insbesondere bei Raub im Sinne von Art. 140 Ziff. 4 StGB bleiben die Eintragungen bis zum Tod des Verurteilten bestehen (vgl. Art. 30 Abs. 2 Bst. c Ziff. 1 GKG). Mit diesem Gesetz wurde auch das Verbot der Verwendung von gelöschten Daten aufgehoben (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 20. Juni 2014 zum Strafregistergesetz [im Folgenden: Botschaft], zu Art. 39 des Entwurfs [BBl 2014 5525, 5590 ff.; BBl 2014 5685]). Gemäss der Botschaft war ein solches Verbot nicht gerechtfertigt, da eine einheitliche und kohärente Anwendung des Verbots aufgrund der von der Rechtsprechung festgelegten Ausnahmen (BBl 2014 5525, 5538), insbesondere für medizinische Sachverständige (BBl 2014 5525, 5590 in Verbindung mit BGE 135 IV 87 E. 2.2), völlig unmöglich war. 2.5); sofern kein Dilemma entsteht, sollte dies im Wesentlichen auch für den Richter gelten, der auf der Grundlage eines Gutachtens entscheiden muss, das eine ungünstige Prognose aufstellt, die weitgehend auf einer früheren Verurteilung beruht, die aus dem Strafregister entfernt wurde (BBl 2014 5525, 5590 f.). Gemäss der Botschaft sollte sich die Frage, ob ein Gutachter oder Richter eine eliminierte Vorstrafe berücksichtigen darf, nicht aus einem schematischen Verbot aufgrund des Ablaufs einer Frist ergeben, sondern im freien Ermessen des medizinischen Gutachters oder des Richters selbst liegen; die Verhältnismässigkeit wird zudem durch die gerichtliche Kontrolle der Entscheidung gewährleistet, die begründet werden muss; insbesondere angesichts des Rechts auf Vergessen und Rehabilitation müssen der Zusammenhang und die Relevanz der früheren Verurteilung sorgfältig nachgewiesen werden: Je länger eine Verurteilung zurückliegt und je weniger schwerwiegend die Straftat ist, desto höhere Anforderungen werden an die Begründung gestellt (BBl 2014 5525, 5591).» (E.2.2.2).

Fallbezogen erlaubt das Bundesgericht den Beizug von Strafakten von Vorfällen, welche über 30 Jahre zurückliegen.

«Zwar liegen die Verurteilungen des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit den verlangten Unterlagen mehr als 30 Jahre zurück, was bei der Interessenabwägung nicht ignoriert werden kann. Dennoch kann dieses zeitliche Element im vorliegenden Fall nicht ausreichen, um den privaten Interessen des Beschwerdeführers Vorrang einzuräumen. Denn wie das kantonale Gericht zu Recht in Erinnerung gerufen hat, ist die Schwere der Straftaten, die Gegenstand der Verfahren P_90 und P_91 waren (darunter ein Raubüberfall, der den Tod des Opfers zur Folge hatte), zu berücksichtigen; das geltende Recht sieht im Übrigen bei einer Verurteilung nach Art. 140 Ziff. 4 StGB keine Löschung mehr vor (vgl. Art. 30 Abs. 2 Bst. c Ziff. 1 GKG). Zu diesen ersten Gewalttaten kommt der Eintrag im Strafregisterauszug vom November 2022 über den Beschwerdeführer hinzu, d.h. eine Verurteilung wegen einer Schlägerei im Jahr 2012, ein Delikt, das erneut auf die körperliche Unversehrtheit abzielt.Der Beschwerdeführer bestreitet auch nicht die Schwere der Vorwürfe, die Gegenstand des aktuellen Verfahrens sind. Das Verfahren betrifft zudem Straftaten, die zum Nachteil von Kindern begangen worden sein könnten.Unter diesen Umständen, wo es erneut um eines der wichtigsten Rechtsgüter geht, erscheinen die strittigen Unterlagen – im Zusammenhang mit Gewalttaten und den vorgeschlagenen (vgl. das verlangte Gutachten) und dann getroffenen (vgl. die verlangten Urteile) Massnahmen, um diese zu beheben – offensichtlich relevant, um die Persönlichkeit oder die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers bzw. dessen Entwicklung in der vorliegenden Sache zu beurteilen (vgl. auch die verlangten Einschätzungen zur Nachbetreuung und das Schreiben vom 3. November 1993).  Es kann daher nicht beanstandet werden, dass die Vorinstanz davon ausging, dass die Staatsanwaltschaft – bzw. der psychiatrische Gutachter – in der Lage sein müsse, die alten Strafakten anzufordern, um sich umfassend über die Vergangenheit des Beschwerdeführers, insbesondere die gerichtliche, informieren zu können.» (E.2.3.2).

Hier diese Erwägung im französischen Originalwortlaut:

«Certes, les condamnations du recourant en lien avec les pièces requises datent de plus de trente ans, ce qui ne saurait être ignoré lors de la pesée des intérêts. Cela étant, cet élément temporel ne saurait suffire en l’occurrence pour faire primer les intérêts privés du recourant. En effet, ainsi que l’a rappelé à juste titre la cour cantonale, il sied de prendre en considération la gravité des infractions ayant fait l’objet des procédures P_90 et P_91 (dont un brigandage ayant entraîné la mort de la victime); le droit actuel ne prévoit d’ailleurs plus la radiation en cas de condamnation en application de l’art. 140 ch. 4 CP (cf. art. 30 al. 2 let. c ch. 1 LCJ). A ces premiers actes violents s’ajoute la mention figurant dans l’extrait du casier judiciaire de novembre 2022 relatif au recourant, soit une condamnation pour rixe en 2012, infraction visant à nouveau l’intégrité corporelle. Le recourant ne conteste pas non plus la gravité des chefs de prévention faisant l’objet de la procédure actuelle. Celle-ci porte de plus sur des infractions qui pourraient avoir été commises au préjudice d’enfants. Dans ces circonstances où entre à nouveau en considération l’un des biens juridiquement protégés les plus importants, les pièces litigieuses – en lien avec des actes violents et avec les mesures proposées (cf. l’expertise requise), puis prises (cf. les jugements sollicités) pour tenter d’y remédier – apparaissent manifestement pertinentes pour évaluer, dans la présente cause, la personnalité ou la dangerosité du recourant, respectivement son évolution (cf. également les évaluations sur le suivi demandées et le courrier du 3 novembre 1993). Partant, il ne peut pas être reproché à l’autorité précédente d’avoir considéré que le Ministère public – respectivement l’expert psychiatre – devait être en mesure de requérir les anciens dossiers pénaux afin de se renseigner de manière complète sur le passé, notamment judiciaire, du recourant.» (E.2.3.2).

Die Übersetzungen wurden mit deepl vorgenommen.

 

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