«Basel nazifrei» Prozesse: Bundesgericht verlangt vollständige Feststellung des Sachverhalts bezüglich Ausstandsbegehren gegen Gerichtspersonen

Im Urteil 1B_254/2022, 1B_260/2022, 1B_261/2022, 1B_262/2022, 1B_263/2022, 1B_265/2022, 1B_266/2022, 1B_267/2022, 1B_272/2022, 1B_279/2022 vom 14. Dezember 2022, die Verfahren wurden vor dem Bundesgericht vereinigt, befasste sich das Bundesgericht u.a. mit Ausstandsbegehren gegen Gerichtspersonen, namentlich des Strafgerichtspräsidenten Lucius Hagemann. Das Bundesgericht hiess die Beschwerden, soweit es darauf eintrat gut, hob den Entscheid der Vorinstanz auf und wies die Sache zur vollständigen Feststellung des Sachverhalts zurück. Auf Seiten der Anwälte, wir meinen hier natürlich mehrheitlich Advokaten, fällt mit Dr. Andreas Noll, Alain Joset und Dr. Christian von Wartburg die hohe Quote von Fachanwälten SAV Strafrecht auf.

Sachverhalt

Im Zusammenhang mit der (unbewilligten) «Basel nazifrei»-Demonstration vom 24. November 2018 waren am Strafgericht Basel-Stadt zahlreiche (nicht vereinigte) Verfahren wegen diverser Delikte hängig. Am 26. September 2020 erschien diesbezüglich in der «Basler Zeitung» (nachfolgend BaZ) ein Interview mit René Ernst, einem der amtierenden Strafgerichtspräsidenten. In einem Beitrag von „Schweiz Aktuell“ des Schweizer Radio und Fernsehens (nachfolgend SRF) vom 13. Oktober 2020 wurde anschliessend davon berichtet, dass das in der BaZ erschienene Interview mit Gerichtspräsident René Ernst «nach Absprache mit seinen Richterkollegen» erfolgt sei. Am 15. April 2021 erschien in der «Wochenzeitung» (nachfolgend WOZ) sodann ein Artikel über die zur Diskussion stehenden «Basel nazifrei»-Prozesse. Darin wurde unter Bezugnahme auf ein der Zeitung zugespieltes gerichtsinternes E-Mail eines namentlich nicht genannten (ordentlichen) Richters des Strafgerichts Basel-Stadt im Wesentlichen davon berichtet, es habe im Vorfeld der «Basel nazifrei»-Prozesse Absprachen zwischen den Strafgerichtspräsidenten gegeben, mit «linksextremen Demonstranten eine gewisse Schiene zu fahren».

Nach dem Erscheinen des SRF-Fernsehbeitrags sowie der Publikation des WOZ-Artikels stellten 16 der im Rahmen der «Basel nazifrei»-Prozesse beschuldigten Personen Ausstandsgesuche gegen die vorsitzenden Strafgerichtspräsidien bzw. das gesamte Strafgericht Basel-Stadt – und darum wird es im Urteil gehen. Weiter beantragten sie, sämtliche «Basel nazifrei»-Verfahren seien an das Strafgericht Basel-Landschaft, eventualiter an das Strafgericht eines anderen Kantons abzutreten. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, hat die 16 vorgenannten Ausstandsverfahren vereinigt und gemeinsam behandelt. Mit Entscheid vom 18. Februar 2022 hat das Appellationsgericht das von K. gegen Strafgerichtspräsident Lucius Hagemann gerichtete Ausstandsgesuch gutgeheissen und alle weiteren Ausstandsgesuche abgewiesen, soweit es darauf eingetreten ist.

Dagegen erheben A. (Verfahren 1B_254/2022; nachfolgend Beschwerdeführer 1) mit Eingabe vom 24. Mai 2022, B. (Verfahren 1B_260/2022; nachfolgend Beschwerdeführer 2), C. (Verfahren 1B_261/2022; nachfolgend Beschwerdeführerin 3), D. (Verfahren 1B_262/2022; nachfolgend Beschwerdeführer 4), E. (Verfahren 1B_263/2022; nachfolgend Beschwerdeführer 5), L. (Verfahren 1B_264/2022), F. (Verfahren 1B_265/2022; nachfolgend Beschwerdeführer 6), G. (Verfahren 1B_266/2022; nachfolgend Beschwerdeführer 7), H. (Verfahren 1B_267/2022; nachfolgend Beschwerdeführer 8), I. (Verfahren 1B_272/2022; nachfolgend Beschwerdeführer 9) je mit Eingaben vom 27. Mai 2022 und J. mit Eingabe vom 2. Juni 2022 (Verfahren 1B_279/2022; nachfolgend Beschwerdeführer 10) beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragen übereinstimmend, den Entscheid des Appellationsgerichts vom 18. Februar 2022 aufzuheben und die jeweiligen Ausstandsgesuche gutzuheissen. Darüber hinaus stellen sie zahlreiche weitere Anträge, worauf im Rahmen der Erwägungen, soweit erforderlich, gesondert einzugehen ist.

Das Appellationsgericht hat mit Eingabe vom 27. Juni 2022 zum Vorwurf der Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführer Stellung bezogen. Im Übrigen hat es auf eine Vernehmlassung verzichtet und die Abweisung der Beschwerden beantragt. Die von den Ausstandsgesuchen betroffenen Strafgerichtspräsidentinnen und -präsidenten haben auf Vernehmlassungen verzichtet und die Abweisung der Beschwerden beantragt. Die Beschwerdeführer haben sich nicht mehr zur Sache geäussert.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1B_254/2022, 1B_260/2022, 1B_261/2022, 1B_262/2022, 1B_263/2022, 1B_265/2022, 1B_266/2022, 1B_267/2022, 1B_272/2022, 1B_279/2022 vom 14. Dezember 2022 

Die Beschwerden in den Verfahren 1B_254/2022, 1B_260/2022, 1B_261/2022, 1B_262/2022, 1B_263/2022, 1B_265/2022, 1B_266/2022, 1B_267/2022, 1B_272/2022 und 1B_279/2022 wurden durch das Bundesgericht vereinigt (E.1).

Über die Anträge auf Aufhebung des Entscheids des Appellationsgerichts und auf Gutheissung der jeweiligen Ausstandsgesuche hinaus machen die Beschwerdeführer in den Verfahren 1B_265/2022, 1B_266/2022, 1B_267/2022 und 1B_272/2022, wie das Bundesgericht ausführt, allesamt vertreten durch Advokat Andreas Noll in ihren identisch lautenden Rechtsschriften auch die Befangenheit der Vorinstanz geltend. Sie beantragen übereinstimmend, für den Fall der Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung sei über die Vorinstanz der Ausstand anzuordnen. Aus verschiedenen, hier nicht näher zu erläuternden Gründen, trat das Bundesgericht auf die in den Beschwerden der Verfahren 1B_265/2022, 1B_266/2022, 1B_267/2022 und 1B_272/2022 enthaltenen Ausstandsgesuche gegenüber der Vorinstanz nicht ein (E.3.1 bis E.3).

Bezüglich der Befangenheit des Gerichtspräsidenten äussert sich das Bundesgericht wie folgt: «Zusammenfassend hat sich die Vorinstanz bei der Feststellung des streitigen Sachverhalts und zur Abweisung der Ausstandsbegehren ausschliesslich auf die Aussagen der abgelehnten Gerichtspräsidien abgestützt, obwohl sich nach dem Gesagten weitere Abklärungen zum rechtserheblichen Sachverhalt aufgedrängt hätten. Zu denken ist insbesondere an eine (schriftliche) Stellungnahme von Gerichtspräsident René Ernst zu Umfang und Inhalt der Rücksprache mit seinen Kolleginnen und Kollegen sowie des in der WOZ zitierten ordentlichen Richters, aber auch weitere mit dem Beschleunigungsgebot vereinbare Beweismassnahmen, namentlich eine Edition der in der WOZ (bloss ausschnittsweise und unvollständig) wiedergegebenen E-Mails. Die Beschwerden sind demnach auch insoweit begründet, als die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt unvollständig festgestellt hat (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG) und sämtliche Beweisanträge der Beschwerdeführer pauschal in unzulässiger antizipierter Beweiswürdigung abgewiesen hat (Art. 29 Abs. 2 BV).» (E.5.4).

Zusätzlich zum Vorwurf der hiervor behandelten „institutionellen Befangenheit“ des Strafgerichts Basel-Stadt, bringen, wie das Bundesgericht fortfährt, die Beschwerdeführer in den Verfahren 1B_262/2022 und 1B_263/2022 übereinstimmend vor, es liege auch eine «persönliche Befangenheit» des für ihre Strafverfahren zuständigen Strafgerichtspräsidenten Lucius Hagemann vor (E.6).

Dazu das Bundesgericht: «Diese „persönliche Befangenheit“ des Strafgerichtspräsidenten Lucius Hagemann wird von den genannten Beschwerdeführern erstmals vor Bundesgericht geltend gemacht. Sie berufen sich auf Aussagen, die der abgelehnte Strafgerichtspräsident gegenüber der Verteidigerin von K., einer weiteren beschuldigten Person in den «Basel nazifrei»-Prozessen und ebenfalls Partei im vorinstanzlichen Ausstandsverfahren, getätigt hatte und die im angefochtenen Entscheid thematisiert wurden. Entsprechend hätten sie erst mit der Eröffnung des angefochtenen Entscheids von den diesbezüglich angerufenen Ausstandsgründen Kenntnis erhalten, weshalb es sich um zulässige neue Tatsachen im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG handle.» (E.6).

«Wie es sich damit verhält, kann mit Blick auf den Ausgang des vorliegenden Verfahrens offen bleiben […]. Sollte die Vorinstanz indessen auch in ihrem erneuten Entscheid zum Ergebnis gelangen, dass eine „institutionelle Befangenheit“ der abgelehnten Gerichtspräsidien zu verneinen sei, so wird es an ihr sein, diese Vorbringen auf ihre prozessuale Zulässigkeit und materielle Begründetheit zu prüfen.» (E.6.2).

Das Bundesgericht entschied im Urteil 1B_254/2022, 1B_260/2022, 1B_261/2022, 1B_262/2022, 1B_263/2022, 1B_265/2022, 1B_266/2022, 1B_267/2022, 1B_272/2022, 1B_279/2022 vom 14. Dezember 2022 wie folgt: «Nach dem Gesagten sind die Beschwerden gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann.» (E.7).

Parteientschädigungen an die Anwälte im Urteil 1B_254/2022, 1B_260/2022, 1B_261/2022, 1B_262/2022, 1B_263/2022, 1B_265/2022, 1B_266/2022, 1B_267/2022, 1B_272/2022, 1B_279/2022 vom 14. Dezember 2022 

Normalerweise diskutieren wir bei der Urteilsbesprechung die Parteientschädigungen nicht. Das Bundesgericht zeigte aber in diesem Fall, wo es ja vielleicht heissen wird, Fortsetzung folgt, eine gewissen Wertschätzung gegenüber den Anwälten. Die Anwälte mit einem Verfahren erhielten eine Parteientschädigung von CHF 2’500 und Advokat Dr. Andreas Noll, Fachanwalt SAV Strafrecht, der vier Verfahren führte, (aufgrund von weitgehend identischen Eingaben) sogar eine Parteientschädigung von CHF 4’000.

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