Art. 85 StPO und Art. 88 StPO im Entsiegelungsverfahren

Im Urteil 7B_209/2024 vom 8. Mai 2024 aus dem Kanton Bern ging es um Mitteilungen im Strafverfahren, im vorliegenden Fall im Entsiegelungsverfahren. Die Adresse des Beschwerdeführers war den Untersuchungsbehörden nicht bekannt, doch hatte er seine Anwältin als Zustellungsdomizil bezeichnet. Es erging keine öffentliche Bekanntmachung i.S.v. 88 StPO. Das Bundesgericht entschied: «Der angefochtene Entscheid verletzt Art. 85 und 88 StPO sowie das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers. Eine Heilung dieses Verfahrensmangels im bundesgerichtlichen Verfahren fällt ausser Betracht. Die Beschwerde in Strafsachen ist begründet und gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist formell aufzuheben. Ob er – wie der Beschwerdeführer argumentiert – sogar als nichtig zu beurteilen wäre, kann unter diesen Umständen offenbleiben (vgl. BGE 131 V 483 E. 2.3.5). Die Vorinstanz wird – nachdem sie dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat – neu über das Entsiegelungsgesuch der Beschwerdegegnerin zu entscheiden haben.» (E.2.4).

Sachverhalt und Instanzenzug

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Bern-Mittelland, führt ein Strafverfahren gegen A. wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG; SR 812.121). Am 7. Dezember 2023 wurde im Rahmen der polizeilichen Einvernahme von A. dessen Mobiltelefon („Oppo“, schwarz) sichergestellt. A. beantragte gleichentags die Siegelung des Mobiltelefons, da private Nachrichten im Gerät gespeichert seien, die er der Polizei nicht zeigen möge.

Am 7. Dezember 2023 ersuchte die Staatsanwaltschaft das Kantonale Zwangsmassnahmengericht des Kantons Bern um Entsiegelung des sichergestellten Mobiltelefons. Mit Verfügung vom 11. Dezember 2023 setzte das Zwangsmassnahmengericht A. eine Frist von fünf Tagen an, um schriftlich zum Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen. Da ihr der Aufenthalt bzw. die Wohnadresse von A. unbekannt war, publizierte sie diese Verfügung für die Dauer eines Monats im Amtsblatt des Kantons Bern. Nachdem sich A. nicht hatte vernehmen lassen, hiess das Zwangsmassnahmengericht mit Entscheid vom 19. Januar 2024 das Entsiegelungsgesuch gut und ermächtigte die Staatsanwaltschaft, das sichergestellte Mobiltelefon zu entsiegeln und zu durchsuchen. Die Kosten für diesen Entscheid in der Höhe von Fr. 400.– schlug es zu den Kosten des Vorverfahrens.

Weiterzug ans Bundesgericht

Mit Eingaben vom 19. und 20. Februar 2024 hat A. gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts „Beschwerde in Strafsachen und subsidiäre Verfassungsbeschwerde“ an das Bundesgericht erhoben mit den Anträgen, es sei die Nichtigkeit des angefochtenen Entscheids festzustellen, eventualiter sei dieser vollumfänglich aufzuheben und die Sache zur umfassenden Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Subeventualiter sei „die umfassende Entsiegelung des Mobiltelefons des Beschwerdeführers abzuweisen und die Vorinstanz anzuweisen, auf dem Mobiltelefon ‚Oppo schwarz‘ rechtlich geschützte Korrespondenz auszusondern“. Die Kosten des vorinstanzlichen Verfahrens seien dem Kanton Bern aufzuerlegen. Ausserdem hat er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht.

Das Zwangsmassnahmengericht hat unter Verweis auf den angefochtenen Entscheid auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_209/2024 vom 8. Mai 2024  

Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Entscheid verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 EMRK, Art. 14 UNO-Pakt II [SR 0.103.2] und Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO) sowie Art. 88 StPO, da ihm die Verfügung vom 11. Dezember 2023, mit der ihn das Zwangsmassnahmengericht zur Stellungnahme zum Entsiegelungsgesuch der Beschwerdegegnerin eingeladen hat, nicht zugestellt, sondern stattdessen im Amtsblatt publiziert worden sei (E.2.1).

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 7B_209/2024 vom 8. Mai 2024 generell-abstrakt wie folgt:

«Nach Art. 85 StPO bedienen sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit das Gesetz nichts Abweichendes bestimmt (Abs. 1). Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Abs. 2).  Gemäss Art. 87 StPO sind Mitteilungen den Adressatinnen und Adressaten an ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort oder an ihren Sitz zuzustellen (Abs. 1). Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland haben in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen; vorbehalten bleiben staatsvertragliche Vereinbarungen, wonach Mitteilungen direkt zugestellt werden können (Abs. 2). Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, werden rechtsgültig an diesen zugestellt (Abs. 3). Hat eine Partei persönlich zu einer Verhandlung zu erscheinen oder Verfahrenshandlungen selbst vorzunehmen, so wird ihr die Mitteilung direkt zugestellt. Dem Rechtsbeistand wird eine Kopie zugestellt (Abs. 4). Art. 88 Abs. 1 StPO bestimmt abschliessend (vgl. Urteil 6B_471/2022 vom 24. August 2022 E. 3), in welchen drei Konstellationen die förmliche Zustellung durch eine öffentliche Bekanntmachung ersetzt werden kann: wenn der Aufenthaltsort der Adressatin oder des Adressaten unbekannt ist und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelt werden kann (lit. a), wenn eine Zustellung unmöglich ist oder mit ausserordentlichen Umtrieben verbunden wäre (lit. b) und wenn eine Partei mit Wohnsitz oder Sitz im Ausland entgegen der Anweisung des Gerichts kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet hat (lit. c). Da die öffentliche Bekanntmachung das letzte Mittel für die Zustellung bleiben muss, kann ein unbekannter Aufenthaltsort oder die Unmöglichkeit der Zustellung im Sinne von Art. 88 Abs. 1 lit. a und lit. b StPO grundsätzlich erst dann angenommen werden, wenn sämtliche zumutbaren Nachforschungen vorgenommen wurden, jedoch erfolglos geblieben sind, oder wenn solche Nachforschungen von vornherein keine Aussichten auf Erfolg versprechen (Urteile 6B_471/2022 vom 24. August 2022 E. 3 mit Hinweisen; vgl. BGE 148 IV 362 E. 1.2; Urteile 6B_457/2023 vom 11. März 2024 E. 1.2; 6B_467/2022 vom 12. Dezember 2022 E. 1.1.3; 6B_317/2022 vom 23. Mai 2022 E. 4; je mit Hinweisen). Als zumutbare Nachforschungen im Sinne von Art. 88 Abs. 1 lit. a StPO gelten etwa Erkundigungen bei der letzten bekannten Adresse, der zuletzt zuständigen Poststelle, bei Einwohnerregistern, Nachbarn, den nächsten Angehörigen oder allenfalls beim aktuellen Arbeitgeber. Bevor die Behörde den Weg der Veröffentlichung einschlägt, hat sie sich durch die nach der Sachlage gebotenen Nachforschungen zu vergewissern, dass der Aufenthaltsort nicht nur ihr, sondern allgemein unbekannt ist (BGE 148 IV 362 E. 1.2; Urteile 6B_471/2022 vom 24. August 2022 E. 3; 6B_317/2022 vom 23. Mai 2022 E. 4; je mit Hinweisen).» (E.2.2).

Fallbezogen entscheidet das Bundesgericht im Urteil 7B_209/2024 vom 8. Mai 2024 wie folgt zugunsten des Beschwerdeführers:

«Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, dass es vorliegend an den Voraussetzungen einer Eröffnung durch öffentliche Bekanntmachung im Sinne von Art. 88 StPO fehlte. Zwar war der Vorinstanz die Adresse des Beschwerdeführers unbestrittenermassen nicht bekannt. Jedoch hatte dieser anlässlich seiner polizeilichen Einvernahme vom 7. Dezember 2023 – nachdem er über die Sicherstellung seines Mobiltelefons und die Möglichkeit der Siegelung belehrt worden war – angegeben: „Meine Post kann zu meiner Anwältin, Frau Mullis“. Die Beschwerdegegnerin reichte das Einvernahmeprotokoll in der Folge dem Zwangsmassnahmengericht als Beilage zum Entsiegelungsbegehren ein. Unter diesen Umständen war die Vorinstanz gehalten, Mitteilungen an den Beschwerdeführer in diesem Verfahren an Rechtsanwältin Mullis zu senden oder sich zumindest bei letzterer danach zu erkundigen, ob ein Vertretungsverhältnis besteht oder ihr eine Zustellungsadresse des Beschwerdeführers bekannt ist. Alleine der Hinweis der Beschwerdegegnerin im Entsiegelungsgesuch vom 7. Dezember 2023, es liege keine Vollmacht von Rechtsanwältin Mullis vor, rechtfertigt keine Mitteilung durch öffentliche Bekanntmachung. Gemäss den Ausführungen der Beschwerdegegnerin reichte Rechtsanwältin Mullis denn auch eine Vollmacht des Beschwerdeführers ein, nachdem ihr im Rahmen einer – eine spätere Anhaltung des Beschwerdeführers betreffenden – Akteneinsicht „irrtümlich“ auch der beschwerdegegenständliche Entsiegelungsantrag mit den Beilagen übermittelt worden war.» (E.2.3).

«Der angefochtene Entscheid verletzt Art. 85 und 88 StPO sowie das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers. Eine Heilung dieses Verfahrensmangels im bundesgerichtlichen Verfahren fällt ausser Betracht. Die Beschwerde in Strafsachen ist begründet und gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist formell aufzuheben. Ob er – wie der Beschwerdeführer argumentiert – sogar als nichtig zu beurteilen wäre, kann unter diesen Umständen offenbleiben (vgl. BGE 131 V 483 E. 2.3.5). Die Vorinstanz wird – nachdem sie dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat – neu über das Entsiegelungsgesuch der Beschwerdegegnerin zu entscheiden haben.» (E.2.4).

Das Bundesgericht heisst im Urteil 7B_209/2024 vom 8. Mai 2024 die Beschwerde in Strafsachen gut (E.2).

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