Stets strenge Praxis des Bundesgerichts bei Landeverweisung und BetmG-Delikten

Im Urteil 6B_1351/2021 vom 18. April 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der strafrechtlichen Landesverweisung eines Spaniers. Dabei erklärte das Bundesgericht, dass es in Sachen BetmG-Delikten und Landesverweisung eine stets strenge Praxis verfolge (E.1.6). Neben der detaillierten Ausführungen zur Landesverweisung und zum FZA ging das Bundesgericht auch explizit auf Art. 8 EMRK ein: «Unter dem Titel von Art. 8 Ziff. 1 EMRK genügen aber selbst eine lange Anwesenheit und die damit verbundene normale Integration nicht; erforderlich sind besonders intensive, über eine normale Integration hinausgehende private Beziehungen beruflicher oder gesellschaftlicher Natur.» (E.1.7)

Sachverhalt

Der A. ist spanischer Staatsangehöriger, jedoch in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Mit Urteil vom 5. November 2020 sprach ihn das Bezirksgericht Zürich der qualifizierten Widerhandlung gegen das BetmG (SR 812.121) sowie der mehrfachen Übertretung des BetmG schuldig und bestrafte ihn hierfür mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von 30 Monaten sowie einer Busse von Fr. 300.–. Ausserdem ordnete es eine stationäre therapeutische Massnahme zur Suchtbehandlung an. Von der Anordnung einer Landesverweisung sah es ab.

Per 6. April 2021 wurde A._ aus dem vorzeitigen Strafvollzug entlassen. Seither hält er sich in der sozialtherapeutischen Einrichtung „B. “ auf.

Instanzenzug

Nachdem die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl betreffend die Frage der Landesverweisung Berufung erhoben hatte, sprach das Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, mit Urteil vom 26. August 2021 für die Dauer von fünf Jahren eine Landesverweisung aus. Die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegte es, mit Ausnahme derjenigen der amtlichen Verteidigung, A..

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1351/2021 vom 18. April 2023

Streitgegenstand vor Bundesgericht ist die Landesverweisung (E.1).

Biografie des Beschuldigten

Zur Biographie des Beschwerdeführers ist dem angefochtenen Urteil durch das Bundesgericht zusammengefasst zu entnehmen, dass er im Alter von zehn Jahren fremdplatziert und bis zum Alter von 18 Jahren in verschiedenen Heimen untergebracht wurde. Einen Schulabschluss hat er nicht, hingegen schloss er erfolgreich eine Anlehre als Topfpflanzengärtner ab. Bis 1998 hat er regelmässig gearbeitet, danach aber nebst der Wohnung auch die Arbeitsstelle verloren. In der Folge hat er Gelegenheitsarbeiten ausgeführt, hauptsächlich im Drogenhandel und gelegentlich in der Prostitution. Ab 2017 fand er in sozialen Institutionen Unterschlupf. Seit seinem 15. Lebensjahr konsumiert er sporadisch, seit seinem 22. Lebensjahr regelmässig Drogen, insbesondere Kokain. Zusätzlich belasten ihn Rücken- sowie Bandscheibenprobleme und er leidet an der Lungenkrankheit COPD. Der Beschwerdeführer ist ledig, unterhält keine Partnerschaft und hat keine Kinder. Er verfügt jedoch über eine enge Beziehung zur Familie seiner in der Schweiz wohnhaften Schwester. Zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils war er 52 Jahre alt. (E.1.1)

Allgemeine rechtliche Ausführungen zur strafrechtlichen Landesverweisung

Rechtlich nahm das Bundesgericht wie folgt allgemein Stellung:

«Das Gericht verweist den Ausländer, der wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das BetmG verurteilt wird, unabhängig von der Höhe der Strafe für 5-15 Jahre aus der Schweiz (Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB). Die obligatorische Landesverweisung greift grundsätzlich unabhängig von der konkreten Tatschwere (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1; 144 IV 332 E. 3.1.3). Von der Anordnung der Landesverweisung kann nur ausnahmsweise unter den kumulativen Voraussetzungen abgesehen werden, dass sie (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB; sog. Härtefallklausel).» (E.1.2)

«Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, entscheidet sich die Sachfrage in einer Interessenabwägung nach Massgabe der öffentlichen Interessen an der Landesverweisung. Nach der gesetzlichen Systematik ist die obligatorische Landesverweisung anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, bei welchem die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit als notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und auf die Legalprognose abgestellt wird (Urteile 6B_33/2022 vom 9. Dezember 2022 E. 3.2.4; 6B_45/2020 vom 14. März 2022 E. 3.3.2; 6B_759/2021 vom 16. Dezember 2021 E. 4.2.2; je mit Hinweisen). Kommt es zur Interessenabwägung, erlangt die Schwere der Anlasstat somit dennoch, unbesehen des Grundsatzes von Art. 66a Abs. 1 StGB, der wie bereits erwähnt nicht auf die konkrete Tatschwere abstellt, Bedeutung.  

Gemäss der aus dem Ausländerrecht stammenden „Zweijahresregel“ bedarf es bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr ausserordentlicher Umstände, damit das private Interesse des Betroffenen an einem Verbleib in der Schweiz das öffentliche Interesse an einer Ausweisung überwiegt. Dies gilt grundsätzlich sogar bei bestehender Ehe mit einer Schweizerin oder einem Schweizer und gemeinsamen Kindern (Urteile 6B_771/2022 vom 25. Januar 2023 E. 1.3; 6B_861/2019 vom 23. April 2020 E. 3.7.4; 6B_34/2019 vom 5. September 2019 E. 2.4.4; je mit Hinweis[en]).» (E.1.5.1)

«Nach Art. 5 Abs. 1 Anhang I des Freizügigkeitsabkommens vom 21. Juni 1999 (FZA; SR 0.142.112.681) dürfen die im Abkommen eingeräumten Rechte nur durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden. Entfernungs- oder Fernhaltemassnahmen setzen somit eine hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den betreffenden Ausländer voraus. Eine strafrechtliche Verurteilung darf nur insofern zum Anlass für eine derartige Massnahme genommen werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA steht Massnahmen entgegen, die (allein) aus generalpräventiven Gründen verfügt würden. Ebenso wenig kann lediglich auf den Ordre public verwiesen werden, ungeachtet einer Störung der sozialen Ordnung, wie sie jede Straftat darstellt. Betäubungsmittelhandel stellt eine schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA dar (BGE 145 IV 364 E. 3.5.2 mit Hinweisen).» (E.1.5.2)

«Gutachten würdigt das Gericht grundsätzlich frei (Art. 10 Abs. 2 StPO). In Fachfragen darf es davon jedoch nicht ohne triftige Gründe abweichen und es muss Abweichungen begründen. Auf der anderen Seite kann das Abstellen auf eine nicht schlüssige Expertise bzw. der Verzicht auf die gebotenen zusätzlichen Beweiserhebungen gegen das Verbot willkürlicher Beweiswürdigung verstossen (BGE 142 IV 49 E. 2.1.3; 141 IV 369 E. 6.1; je mit Hinweisen). Ob ein Gutachten noch hinreichend aktuell ist, ist nicht primär eine Frage seines formalen Alters. Vielmehr ist relevant, ob Gewähr dafür besteht, dass sich die Ausgangslage seit der Erstellung des Gutachtens nicht gewandelt hat (BGE 134 IV 246 E. 4.3; Urteile 6B_1167/2021 vom 27. Juli 2022 E. 3.2.1; 6B_835/2017 vom 22. März 2018 E. 5.3.2, nicht publ. in: BGE 144 IV 176; je mit Hinweisen).» (E.1.5.4)

Wichtiges obiter dictum zu BetmG-Delikten

Das Bundesgericht betonte, dass es sich bei der Landesverweisung bei BetmG-Delikten «stets streng» zeigt:

«Vorauszuschicken ist, dass sich das Bundesgericht hinsichtlich der Landesverweisung bei Straftaten gegen das BetmG mit Verweis auf Art. 121 Abs. 3 lit. a BV stets streng zeigt (vgl. Urteile 6B_138/2022 vom 4. November 2022 E. 3.1.1; 6B_1424/2019 vom 15. September 2020 E. 2.4.5; je mit Hinweis[en]). Grundsätzlich ist bereits der einmaligen Begehung einer qualifizierten Widerhandlung gegen das BetmG eine derart hohe Tatschwere inhärent, dass sie eine obligatorische Landesverweisung nach sich zieht (vgl. Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB).» (E.1.6)

Entscheid des Bundesgerichts im konkreten Fall

Die Ausführungen der Vorinstanz zur Schwere der Anlasstat und der Vorstrafen sowie der sich darin manifestierenden, fortbestehenden Gefährlichkeit des Beschwerdeführers sind für das Bundesgericht im Ergebnis bundesrechts- sowie EMRK-konform.

Auch eine Verletzung der Garantien gemäss FZA ist angesichts der hinreichend erstellten Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für das Bundesgericht nicht zu erkennen: Denn nach Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA dürfen die im Abkommen eingeräumten Rechte durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden. Ob die öffentliche Ordnung und Sicherheit (weiterhin) gefährdet ist, folgt aus einer Prognose des künftigen Wohlverhaltens, die vorliegend zulasten des Beschwerdeführers ausfällt. (E.1.6 a.E.)

Zu Art. 8 EMRK

Der Beschwerdeführer beruft sich, wie das Bundesgericht schliesslich erkärt, ergänzend auf das Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Art. 8 Ziff. 1 EMRK. Zwar ist dem Betroffenen im Rahmen der Interessenabwägung mit zunehmender Aufenthaltsdauer ein gewichtigeres privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz zuzubilligen (vgl. BGE 146 IV 105 E. 3.4.4; Urteil 6B_1318/2020 vom 19. Mai 2022 E. 1.4.1 mit Hinweis). Unter dem Titel von Art. 8 Ziff. 1 EMRK genügen aber selbst eine lange Anwesenheit und die damit verbundene normale Integration nicht; erforderlich sind besonders intensive, über eine normale Integration hinausgehende private Beziehungen beruflicher oder gesellschaftlicher Natur (BGE 144 II 1 E. 6.1 mit Hinweisen; Urteile 6B_1124/2021 vom 16. Dezember 2022 E. 2.2.3; 6B_138/2022 vom 4. November 2022 E. 3.1.3). Dass ihm derartige ausserordentliche Integrationsleistungen gelungen wären, macht der Beschwerdeführer (zu Recht) nicht geltend: Sein Hinweis, wonach er im Besitz einer Niederlassungsbewilligung sei, die gesamte Schulzeit und berufliche Ausbildung in der Schweiz absolviert habe, hier sämtliche privaten Beziehungen habe und akzentfrei Schweizerdeutsch spreche, reicht zur Annahme solcher Leistungen nicht aus. Es ist somit nicht von einem schützenswerten Privatleben im Sinne von Art. 8 Ziff. 1 EMRK auszugehen, schliesst das Bundesgericht (E.1.7)

 

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