Grundsatz von Art. 68 Abs. 2 StPO
Art. 68 Abs. 2 StPO lautet wie folgt:
„Der beschuldigten Person wird, auch wenn sie verteidigt wird, in einer ihr verständlichen Sprache mindestens der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen mündlich oder schriftlich zur Kenntnis gebracht. Ein Anspruch auf vollständige Übersetzung aller Verfahrenshandlungen sowie der Akten besteht nicht.“
Dass die Anklageschrift eines der wichtigsten Dokumente eines jeden Strafverfahren ist, muss hier nicht weiter vertieft werden.
Stimmen aus der Literatur
Gemäss dem BSK StPO hat die beschuldigte Person Anspruch auf detaillierte Information über die vorgehaltenen Deliktsvorwürfe „in einer ihr verständlichen Sprache“ sowie auf „Übersetzung jeder Verfahrensvorgänge, auf deren Verständnis sie angewiesen ist, um ihr ein Faires Verfahren zu gewährleisten. Dazu gehört auch die Anklage (BSK StPO-Adrian Urwyler/Martin Stupf, Art. 68 N 6).
Ausführungen des Obergerichts des Kantons Zürich im Beschluss vom 25. Januar 2024 (Geschäfts-NR. SB230113)
Das Obergericht äussert sich zum Thema des Anspruchs auf eine schriftliche Übersetzung der Anklage im Beschluss vom 25. Januar 2024 (Geschäfts-NR. SB230113) u.a. wie folgt:
«Der beschuldigten Person wird, auch wenn sie verteidigt wird, in einer ihr verständlichen Sprache mindestens der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen mündlich oder schriftlich zur Kenntnis gebracht. Ein Anspruch auf vollständige Übersetzung aller Verfahrenshandlungen sowie der Akten besteht nicht (Art. 68 Abs. 2 StPO). Der Umfang der Beihilfen, die einer beschuldigten Person, deren Muttersprache nicht der Verfahrenssprache entspricht, zuzugestehen sind, ist nicht abstrakt, sondern aufgrund ihrer effektiven Bedürfnisse und der konkreten Umstände des Falles zu würdigen (BGE 145 IV 197 E. 1.3.3 S. 201 f.; 143 IV 117 E. 3.1 S. 120; Urteil 6B_1229/2021 vom 17. Januar 2022 E. 6.3.3). Zu den wichtigsten Verfahrenshandlungen gehören in der Regel die Anklageschrift, die Instruktion des Verteidigers und die wesentlichen Vorgänge der mündlichen Hauptverhandlung (Urteil 6B_936/2019 vom 20. Mai 2020 E. 8.4.1). Je nach den Umständen des konkreten Falles können aber weitere Verfahrensbestandteile hinzukommen, etwa die Befragung von Zeugen. Demnach müssen wichtig erscheinende prozedurale Vorgänge und Akten übersetzt werden. Dem Beschuldigten muss durch die Übersetzung zur Kenntnis gebracht werden, was ihm konkret vorgeworfen wird, und er muss in die Lage versetzt werden, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen (BGE 118 Ia 462 E. 2a S. 464 f.; Urteil 6B_722/2011 vom 12. November 2012 E. 2.4). Zumindest der Anklageschrift ist grundsätzlich eine schriftliche Übersetzung beizufügen (KARPENSTEIN/MAYER, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2022, N. 192 zu Art. 6 EMRK). Selbst wenn Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK nicht einen Anspruch auf eine schriftliche Übersetzung umschreibt, unterstreicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass der Anklage eine wesentliche Rolle zukommt und der Beschuldigte durch eine fehlende Übersetzung einen Nachteil erleiden kann (Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 18. Oktober 2006 in Sachen Hermi gegen Italien, 18114/02, Ziff. 68, sowie vom 19. Dezember 1989 in Sachen Kamasinski gegen Österreich, 9783/82, Ziff. 79). Im Urteil Kamasinski gegen Österreich hielt der Gerichtshof eingangs fest, dass die Anklageschrift eine zentrale Rolle im Strafverfahren spielt und mit ihrer Eröffnung der Beschuldigte „offiziell und schriftlich“ über die rechtliche und tatsächliche Grundlage der gegen ihn erhobenen Vorwürfe informiert werde. Ein Angeklagter, dem die Gerichtssprache nicht geläufig sei, könne faktisch benachteiligt sein, wenn ihm nicht zusätzlich eine Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache übergeben werde. Im konkreten Fall gelangte der EGMR zum Schluss, dass der Beschuldigte in seiner Verteidigung trotz fehlender schriftlicher Übersetzung der Anklage nicht eingeschränkt gewesen sei. Zur Begründung verwies der Gerichtshof auf die konkreten Umstände, wonach dem Beschuldigten die Anklage mündlich (auf Englisch) erklärt worden sei und die Anklage sechs Seiten umfasse, wobei die Anklagepunkte weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht komplex gewesen seien. Im Übrigen sei nicht aktenkundig, dass der Beschuldigte im zugrundeliegenden Verfahren eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift verlangt habe (a.a.O., Ziff. 79 ff.).» (E.5.3.1).
«Nicht erforderlich für die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK ist für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass aufgezeigt wird, welche Verteidigungsmöglichkeiten dem Beschwerdeführer konkret entgangen sind und ob ein Verteidigungsvorbringen überhaupt hätte Erfolg haben können (KARPENSTEIN/MAYER, a.a.O., N. 194 zu Art. 6 EMRK; Urteil des Europäischen – 21 – Gerichtshofes für Menschenrechte vom 5. März 2013 in Sachen Varela Geis gegen Spanien, 61005/09, Ziff. 52).» (E.5.3.2).
«Die Anklage gehört zweifelsohne zu den zentralen Handlungen in einem Strafprozess. Laut konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist unter dem Gesichtspunkt der Informationsfunktion des Anklageprinzips massgebend, dass die beschuldigte Person genau weiss, was ihr angelastet wird, damit sie ihre Verteidigungsrechte angemessen ausüben kann. Das Anklageprinzip bezweckt den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (BGE 149 IV 128 E. 1.2 S. 130; Urteil 6B_959/2022 vom 7. August 2023 E. 2.1; je mit Hinweisen). Das Recht auf Unterrichtung ergibt sich als Konkretisierung der Garantie auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) aus Art. 32 Abs. 2 BV. Dass der Beschuldigte einen Anspruch darauf hat, durch eine schriftliche Anklage schon vor der Hauptverhandlung über die Vorwürfe gegen ihn informiert zu werden, schreibt die Strafprozessordnung klar vor (Art. 325 Abs. 1 StPO).» (E.5.3.3).
Im vorliegenden Fall wurde die Anklage vom 26. Oktober 2020 weder als Ganzes noch teilweise jemals übersetzt (E.5.4).
Das Obergericht des Kantons Zürich kommt im vorliegenden Fall zur Schlussfolgerung:
«Indem dem Beschuldigten F. die Anklageschrift vom 26. Oktober 2020 nicht übersetzt wurde, wurde Art. 68 Abs. 2 StPO nicht Rechnung getragen sowie sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.» (E.5.5).
Die Folge davon ist gemäss dem Obergericht des Kantons Zürich die in Anwendung von Art. 409 StPO kassatorische Erledigung durch Rückweisung zur Wahrung der Parteirechte (E.5.6.2 ff.). «Die Hauptverhandlung fand statt, ohne dass dem Beschuldigten F. die Anklage übersetzt worden wäre, obwohl er dies mehrfach gefordert und gerügt hatte. Es blieb für den Beschuldigten F. deshalb unklar, inwiefern die Anklageschrift vom 26. Oktober 2020 mit den (auszugsweise übersetzten) Entwürfen vom 21. Mai 2020 und 29. Mai 2020 übereinstimmt und inwiefern die Staatsanwaltschaft von ihrer Anklage vom Frühjahr 2020 abwich. […]. Damit aber wurde das Verfahren nicht ordnungsgemäss durchgeführt. Das vorinstanzliche Gerichtsverfahren leidet an einem schwerwiegenden, nicht heilbaren Mangel. […] Vor diesem Hintergrund braucht nicht entschieden zu werden, ob eine (mündliche) Übersetzung anlässlich der Hauptverhandlung in Beachtung von Komplexität und Umfang der Anklage sowie des Grundsatzes der Waffengleichheit nicht ohnehin verspätet gewesen wäre (vgl. THOMAS BRAITSCH, Gerichtssprache für Sprachunkundige im Lichte des „fair trial“, Bern 1991, S. 139, 383 ff. mit Hinweisen). […] So oder anders blieb für den Beschuldigten F. die endgültige Formulierung der Anklage im Dunkeln und damit das Prozessthema unbestimmt.» (E.5.6.5).
Absoluter Anspruch auf schriftliche Übersetzung der Anklage in jedem Strafverfahren?
Die Ausführungen des Obergerichts den Kantons Zürich im Beschluss vom 25. Januar 2024 (Geschäfts-Nr. SB230113) entscheiden unmissverständlich den beurteilten Fall.
Nun stellt sich aber, die bereits in Kreisen der Fachanwältinnen und Fachanwälte SAV Strafrecht intensiv diskutierte Frage, ob in jedem Fall ein absoluter Anspruch auf schriftliche Übersetzung der Anklageschrift besteht. Diese Frage dürfte, allenfalls bereits in diesem Jahr, durch das Bundesgericht geklärt werden.
Das Obergericht des Kantons Zürich verweist im Beschluss vom 25. Januar 2024 (Geschäfts-Nr. SB230113) u.a. auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 19. Dezember 1989 in Sachen Kamasinski gegen Österreich, 9783/82, Ziff. 79). In diesem Fall gelangte der EGMR zum Schluss, dass der Beschuldigte trotz fehlender Übersetzung der Anklage nicht in seiner Verteidigung eingeschränkt war. Das Obergericht des Kantons Zürich erklärt aber auch: „Zumindest der Anklageschrift ist grundsätzlich eine schriftliche Übersetzung beizufügen.“ (E.5.3.1).
Aus der Sicht der Strafverteidigung dürfte es Sinn machen, (rechtzeitig) entsprechende Übersetzungsanträge für die Klageschrift an die Verfahrensleitung zu stellen, insbesondere wenn der Fall von einer gewissen Komplexität ist. Es wird sich mit der Zeit dann entweder eine Praxis der Zürcher Staatsanwaltschaften und Gerichte entwickeln oder die Frage der grundsätzlichen Übersetzung der Anklageschrift wird durch das Bundesgericht entschieden. Fortsetzung folgt hier also mit Sicherheit…
Von: Boris Etter, lic.iur. HSG, Rechtsanwalt, LL.M., LL.M., Fachanwalt SAV Strafrecht
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