Aktueller Stand der Praxis zum Härtefall bei Landesverweisung

Im Urteil 6B_1332/2021 vom 10. Januar 2023 ging es um einen Betäubungsmittelfall aus dem Kanton Zürich. Das Bundesgericht gab ihn diesem Entscheid eine schöne allgemeine Übersicht über den geltenden Stand der Grundsätze zur strafrechtlichen Landesverweisung und des Vorliegens eines Härtefalls (E.4.3.1 und E.4.3.2).

Sachverhalt

Das Bezirksgericht Horgen sprach A. mit Urteil vom 7. Dezember 2020 des Verbrechens und des Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig; vom Vorwurf der Begünstigung sprach es ihn frei. Es verzichtete auf den Widerruf des mit Urteil des Bezirksgerichts Winterthur vom 1. April 2015 ausgefällten bedingten Anteils der Freiheitsstrafe von 14 Monaten. Sodann bestrafte es A. mit 20 Monaten Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe von acht Tagessätzen zu Fr. 90.–, wovon 195 Tage durch Untersuchungshaft erstanden sind. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde im Umfang von 14 Monaten aufgeschoben und die Probezeit auf fünf Jahre festgesetzt. Im Übrigen (sechs Monate, abzüglich 195 Tage, die durch Untersuchungshaft erstanden sind), ordnete es den Vollzug der Freiheitsstrafe an, ebenso jenen der Geldstrafe. Von einer Landesverweisung sah es ab.

Instanzenzug

Auf Berufung der Staatsanwaltschaft hin stellte das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 23. August 2021 zunächst die Rechtskraft verschiedener Punkte des Urteils vom 7. Dezember 2020 (insbesondere Schuldsprüche und Freispruch) fest. Sodann erkannte es Folgendes: (1.) A. wird bestraft mit 30 Monaten Freiheitsstrafe, wovon 195 Tage durch Untersuchungshaft erstanden sind. (2.) Der Vollzug der Freiheitsstrafe wird nicht aufgeschoben. (3.) Auf den Widerruf des mit Urteil des Bezirksgerichts Winterthur vom 1. April 2015 ausgefällten bedingten Anteils der Freiheitsstrafe von 14 Monaten wird verzichtet. (4.) A. wird für sechs Jahre des Landes verwiesen. (5.) Von der Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem (SIS) wird abgesehen.

Weiterzug an das Bundesgericht

Person A. lässt mit Beschwerde in Strafsachen beantragen, unter Aufhebung der Disopsitiv-Ziff. 1, 2 und 4 des vorinstanzlichen Urteils sei er zu 18 Monaten Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe von acht Tagessätzen zu Fr. 90.– zu verurteilen, der Vollzug der Freiheitsstrafe sei aufzuschieben und es sei von einer Landesverweisung abzusehen; eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an das Obergericht des Kantons Zürich zurückzuweisen. Ferner lässt er um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen. Am 15. August und 21. November 2022 lässt A. Beschwerdeergänzungen samt Beilagen einreichen.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1332/2021 vom 10. Januar 2023

Der Beschwerdeführer wendet sich vor Bundesgericht gegen die Landesverweisung und rügt eine Verletzung von Art. 66a Abs. 2 StGB. Diesbezüglich macht er geltend, die Vorinstanz gehe methodisch falsch vor. Sie berücksichtige bei der Beurteilung des Härtefalls nicht sachgerechte Kriterien; die Rückfallgefahr und die Delinquenz dürften nur bei der Interessenabwägung zum Tragen kommen. Es liege ein persönlicher Härtefall vor, und die erst anschliessend vorzunehmende Abwägung zwischen seinen privaten und den öffentlichen Interessen falle zu seinen Gunsten aus. Von einer Landesverweisung müsse daher abgesehen werden. (E.4.1).

Das Bundesgericht benutzte die Gelegenheit um im Urteil 6B_1332/2021 vom 10. Januar 2023 einen aktuellen Überblick über die strafrechtliche Landesverweisung zu geben:

«Die obligatorische Landesverweisung wegen einer Katalogtat im Sinne von Art. 66a Abs. 1 StGB greift grundsätzlich unabhängig von der konkreten Tatschwere (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1; 144 IV 332 E. 3.1.3).» (E.4.3.1).

«Das Gericht kann ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB).  

Diese Härtefallklausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (vgl. Art. 5 Abs. 2 BV). Sie ist restriktiv anzuwenden (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich zur kriteriengeleiteten Prüfung des Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB der Kriterienkatalog der Bestimmung über den „schwerwiegenden persönlichen Härtefall“ in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201) heranziehen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.3.2). Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration, einschliesslich familiärer Bindungen des Ausländers in der Schweiz bzw. in der Heimat, die Aufenthaltsdauer, der Gesundheitszustand und die Resozialisierungschancen. Bei der Härtefallprüfung ist nicht schematisch ab einer gewissen Aufenthaltsdauer eine Verwurzelung in der Schweiz anzunehmen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.4). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anerkennt vielmehr das Recht der Staaten, die Einwanderung und den Aufenthalt von Nicht-Staatsangehörigen auf ihrem Territorium zu regeln (BGE 144 I 266 E. 3.2; Urteil 6B_429/2021 vom 3. Mai 2022 E. 3.1.2). Dabei ist die intendierte „massive Verschärfung“ (BGE 145 IV 55 E. 4.3) des Ausweisungsrechts nicht aus dem Auge zu verlieren (vgl. BGE 144 IV 332 E. 3.3.3; Urteile 6B_658/2020 vom 23. August 2021 E. 3.4.1; 6B_1424/2019 vom 15. September 2020 E. 3.4.1). Erforderlich sind besonders intensive, über eine normale Integration hinausgehende private Beziehungen beruflicher oder gesellschaftlicher Natur (vgl. BGE 144 II 1 E. 6.1; Urteile 6B_134/2021 vom 20. Juni 2022 E. 5.3.2; 6B_429/2021 vom 3. Mai 2022 E. 3.1.2). Das Gericht darf auch vor dem Inkrafttreten von Art. 66a StGB begangene Straftaten berücksichtigen (Urteile 6B_369/2021 vom 5. Mai 2022 E. 3.1; 6B_45/2020 vom 14. März 2022 E. 3.3.2 mit Hinweisen). 

Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, entscheidet sich die Sachfrage in einer Interessenabwägung nach Massgabe der „öffentlichen Interessen an der Landesverweisung“. Nach der gesetzlichen Systematik ist die obligatorische Landesverweisung anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, sodass die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose abgestellt wird (Urteile 6B_134/2021 vom 20. Juni 2022 E. 5.3.2; 6B_45/2020 vom 14. März 2022 E. 3.3.2; 6B_166/2021 vom 8. September 2021 E. 3.3.2).» (E.4.3.2).

Aufgrund der ungenügenden Substantiierung der Rügen in der Beschwerde ging das Bundesgericht nicht näher auf den Sachverhalt ein (E.4.4).

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